Nest im Kopf. Beate Morgenstern

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Nest im Kopf - Beate Morgenstern

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Arzt greift mit einem Gummihandschuh in ihren Hals. Anna wundert sich, dass sie mit dieser großen Hand im Hals nicht erstickt. Er holt Fleischklumpen aus ihrem Hals und legt sie in die Schale, sodass Anna das Fleisch genau anschauen muss. Die Igelitschürze vom Arzt ist blutbespritzt wie eine Fleischerschürze. Dann liegt Anna auf dem schwarzen Wachstuchsofa wie der Junge, der jetzt nicht mehr da ist. Sie wollte nicht weinen. Aber der Hals brennt, als hätte man Salz auf das rohe Fleisch gestreut. Nach einer Stunde gehen die Mutter und Anna. Anna ist jetzt ihr ganz kleines Kind. Sie fahren bis in die Kreisstadt. Dort gehen sie in einen dunklen Laden. Anna darf sich ein Spielzeug aussuchen. Sie möchte ein Äffchen. Die nächsten Tage muss sie fasten. Erst trinkt sie nur Saft, nachher kriegt sie Pudding.

      Adventszeit. Der Vater ist da. Er übt mit Anna einen Liedvers für die Christvesper ein.

      Ich steh an deiner Krippe hier, o Jesus du mein Leben, ich komme ...

      Ich komme, bring und schenke dir ... sagt der Vater.

      Ich komme bring und schenke dir ... was du mir hast gegeben.

      Nimm hin

      Nimm hin es ist mein Geist und ...

      Mein Geist und Sinn

      Mein Geist und Sinn

      Herz, Seel und

      Herz Seel und Mut nimm alles hin

      Und?

      Und lass dirs wohl gefallen.

      Anna schnurrt den Rest herunter. So ganz versteht sie nicht, was sie da lernt. Herz-Seel-Geist-und-Mut, war nicht alles dasselbe? Sicher nicht ganz. Anna gefallen die schönen, schwierigen Worte. Sie hat eine Vorliebe für schöne, schwierige Worte und schöne, schwierige Töne und freut sich, dass der Vater ihr den Liedvers zutraut. Für ihn ist Anna der kleine drollige Kamerad, den er in seiner späteren Amtszeit so nötig brauchen wird. Zeitig pflanzt er in Anna seine Liebe zu dem Dichter Paul Gerhardt und dem über alles geschätzten Johann Sebastian Bach ein.

      Im Religionsunterricht wird eine kleine Bescherung aus Spenden der Gemeinde ausgerichtet. Die strenge alte Religionslehrerin ruft jedes Kind einzeln auf. Die Kinder dürfen ihre Tüten gleich auspacken. Anna findet in ihrer ein großes Lebkuchenherz vom reichen Bäcker und einen Apfel. Dann fühlt sie etwas Langes, Gestricktes. Sie vermutet einen Schal und wickelt es auseinander. Da könnte sie fast heulen. Es sind lange Wollstrümpfe. Schon jetzt fangen ihr die Beine an zu jucken. Den ganzen Winter wird sie sich halb totkratzen. Lieber hätten sich die Schwestern mit dem Stricken und der guten Wolle nicht so anstrengen und ihr ein Paar billige Baumwollstrümpfe kaufen sollen, die herumschlabbern, wenn sie nur einen halben Tag am Strumpfgummi des Leibchens angeknöpft sind. Viel Gutes konnte aus einer Religionsunterricht-Bescherung sowieso nicht herauskommen. Aber eine richtige Strafe hat Anna nicht erwartet. Anna mag den Religionsunterricht noch weniger als die Schule. Nur aus einem Grund kann sie die Religionslehrerin leiden: weil sie ein Mädchen angenommen hat, das vielleicht von Zigeunern abstammt, so fein und dunkelhäutig sieht sie aus und sagt kaum mal etwas. Leider ist sie nicht in Annas Klasse gekommen. Sonst hätte Anna das Mädchen jeden Tag ansehen können. Später hört Anna, das Mädchen sei ein Russenkind. Davon hätte es viele in Gottshut gegeben. Flüchtlingsfrauen hätten sie den Gottshuterinnen überlassen, sie wurden in ihren Familien aufgenommen und großgezogen.

      In der Kinderchristvesper wandern Saaldiener in dunklen Anzügen und Saaldienerinnen mit weißen Hauben und gehäkelten Umhängen durch die Reihen, während leise die Orgel spielt, fragen die Kinder Liedverse ab, geben ihnen aus einem Kerzenbündel lange, mit grünen Papierröckchen geschmückte Kerzen und zünden sie an. Erst sagt Mechthild ihr Sprüchlein, dann Anna ihr Ich-steh-an-deiner-Krippe-hier. Sie bleibt stecken. Doch der Bruder und der Vater lächeln, und der Vater hilft weiter. Bischof Borchert sitzt auf einem weißen Lehnstuhl vor einem mit grünem, festem Stoff verkleideten Pulttisch und liest etwas vor. Anna muss den Bischof statt Gott lieben, den sie nicht sehen kann und der die Menschen so liebte, dass er seinen einzigen Sohn als Christkind den Menschen zum Geschenk machte. Der Saal ist beinahe wie im Himmel, alles weiß. Vorhänge, Wände, Bänke leuchten im Kerzenlicht. Und hoch oben singt jubelnd der Engelein Chor.

      Taumelig vor Glück geht Anna mit dem Vater und Mechthild nach Hause. Für die Mädchen sitzen auf dem Gabentisch alte Gliederpuppen mit Porzellanköpfchen. Die größere mit der schwarzen Lockenperücke ist Annas. Sie nennt sie nach der Tochter der Religionslehrerin: Amrie. Im Laufe der Jahre und Mode wechselt Amrie ihre Perücken und sogar ihren Kopf aus. Doch ihre Seele hat sie mit ihrem Namen bekommen und behält sie solange, wie Anna beim Aussprechen ihres Namens nicht nur Puppe denkt, sondern zigeunerhafte Tochter der Religionslehrerin.

      Die Brüderwiese ist am Nachmittag Treffpunkt der Kinder. Die tollkühnen Größeren wagen mit ihren Skiern eine Abfahrt vom äußersten Rand der Wiese, die Senke hinunter, und bremsen kurz vor der Schlucht des Ebersbachs ihre Fahrt ab. Die ganz kleinen Kinder fahren vom Wald aus seitlich in die Mulde hinein. Die meisten Schlittenbesitzer nehmen den steilen gegenüberliegenden Buckel und stemmen sich im Tal mit aller Kraft gegen den Schnee und lenken den Schlitten auf den Weg, um nicht im Ebersbach zu landen, der mörderisch ist. Kinder haben sich schon Knochen gebrochen, sagt man. Wenn man sich das vorstellt, racks, knacks, die Knochen mittendurch. Erst schlägt der Kopf gegen die oben an der Schlucht wachsenden Bäume, dann trudelt das Kind mit umherfliegenden weichen Armen und Beinen das Gebüsch hinunter und schlägt dann auf dem Felsen im Eiswasser auf. Halb tot oder ganz tot. Anna graust es vor dem im Sommer so friedlich stinkenden Ebersbach, der nun zur Mördergrube geworden ist. Sie hat einen guten Familienschlitten und saust von oben hinunter ins Tal. Aber sie vergisst nicht, rechtzeitig ihr linkes Bein in den Schnee zu setzen, um die Kurve zu kriegen. Ein- oder zweimal am Nachmittag nimmt sie Mechthild auf ihrem Schlitten mit, hält die kleine Person ordentlich fest und riskiert nichts. Ansonsten hat Mechthild ihren eigenen Schlitten. Einen solchen gibt es auf der ganzen Brüderwiese nicht noch mal. Kurz, mit eingedrehten Schneckenkufen und runder Rückenlehne, ganz und gar aus Eisen, nur der Sitz aus Holz. Anna meinte erst, dass er nicht führe, läge an Mechthild, und probierte ihn selbst aus. Doch er ist so gemacht, dass niemand damit ordentlich fahren kann. Nur Mechthild hält es mit ihm aus, rutscht ein Stück, kippt um, rappelt sich auf, rutscht wieder ein Stück. Keine Gefahr, dass sie einmal im Ebersbach landet.

      Frühjahr. Anna kreiselt mit Paulchen auf den Gehwegplatten vor seinem Haus. Anna bindet die Peitschenschnur um die Kerben des hölzernen, bunt bemalten Kreisels, wirft den Kreisel von sich, holt gleichzeitig mit der Peitsche aus und schlägt ihn, bis er zu wackeln aufhört, sich immer schneller dreht und schließlich tanzt, ganz ruhig, kaum dass er sich von der Stelle bewegt. Ab und zu bekommt der Kreisel eins mit der Peitsche über, rutscht kurz zur Seite und tanzt weiter. Irgendwann verpasst Anna den richtigen Augenblick, der Kreisel wackelt und fällt um. Paulchens Kreisel steht fast still auf seiner Spitze, rutscht zur Seite, richtet sich wieder auf.

      Paulchen bringt Anna das Pfeifen bei. Wo sie geht und steht, übt Anna, spitzt die Lippen und bläst Luft durch. Mal pfeift es, mal nicht. Mehr und mehr pfeift es. Die Großmutter sagt: Mädchen, die pfeifen, ·und Hühnern, die krähen, den soll man beizeiten den Hals umdrehen. Anna findet den Vergleich komisch, weil doch jeder Lippen zum Pfeifen hat, nicht nur Jungen. Sie wird ein krähendes Huhn bleiben, woraus man ihr vorläufig keine Vorwürfe macht außer dem, sie sei zu wild. Aber die Mutter erzählt gern selbst, sie sei ein wildes Mädchen gewesen, und so fruchten schon deshalb die Ermahnungen nichts.

      Im Morgengrauen des Ostertages sind viele Brüder und Schwestern auf den Straßen von Gottshut unterwegs. Gesprochen wird nicht. Stumm nickt man sich zu. Auch als sie dicht gedrängt in den frischen Mauern des neuen, noch nicht überdachten Betsaals stehen, der Himmel über ihnen wie in einer Ruine, fällt kein Wort. Wenn ein Einzelner nicht redet, fällt das nicht auf. Aber bei so vielen ist das Schweigen etwas Gewaltiges, Großes. Beklommen

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