Nest im Kopf. Beate Morgenstern

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Nest im Kopf - Beate Morgenstern

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auf dem Acker Gottes, in der Zeit in die Erde gelegt, um in der Ewigkeit aufzugehen.

      Buchenhecken zwischen dem unteren neuen und dem oberen alten Gottesacker. Sonst das gleiche Bild. Alleen, Rasenfelder. Auf dem oberen Teil markierten Holzstäbchen mit einer Nummer besondere Gräber für fremde Besucher. Da war das des Zimmermanns und Führers der ersten mährischen Auswanderergruppe, der auch die ersten Hütten gebaut hatte, da das erste Korn auf dem Acker Gottes, das Grab einer unverheirateten Frau. Dort kennzeichnete ein Schild das Grab des Kaufmanns und Fabrikanten, der den Gottshutern eine Existenz sicherte. Die Schilder waren spärlich verteilt. Eines befand sich am Grab des ersten Missionars, zwei weitere an Gräbern von Tibetmissionaren. Einer von ihnen war erst nach fünfzigjähriger Abwesenheit nach Gottshut zurückgekehrt, der andere hatte sich als Sprachforscher und Bibelübersetzer hervorgetan. Fremde Schriftzeichen waren in den Grabstein eingemeißelt. Die ersten Getauften folgten ihren neuen Führern in die alte Welt. Es lagen ein achtjähriger Negersklave aus der Karibik und ein siebzehnjähriger Indianer hier begraben und das erste getaufte Eskimo-Ehepaar.

      Gehet hin in alle Welt und verkündet allen Völkern und taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. So lautete der Auftrag des Herrn der Christen. Die einfachen Gottshuter - Leineweber, Töpfer, Zimmerleute, Schneider - nahmen ihn sehr ernst, zogen in die Welt, um die frohe Botschaft vom Lamm Gottes zu verkünden. Ihren Lebensunterhalt verdienten sie auf Schiffen, als Arbeiter auf Plantagen. Wurde ihr Leben gefordert, gaben sie es freudig dahin. Sie starben in den Fluten des Meeres oder am Fieber.

      Annas Vater missionierte, von einem der beiden Brüder Annas sagte man, er sei ein Evangelist. Anna hatte in ihrer Familie Unduldsamkeit kennengelernt, die Folge fanatischen Eifers. Sie hatte eine Erklärung für das Verhalten der Familie finden müssen, an die sie so viel band. Deshalb hatte sich Anna lange mit dem Missionsgedanken auseinandergesetzt. So fremd er ihr war, so schien ihr der Eifer, die Welt zu erretten, zu missionieren, die Heilslehre in alle Erdteile zu tragen, zum christlichen Erlösungsglauben zugehörig.

      Die Gottshuter waren sanfte Missionare gewesen. Sie wollten durch vorgelebtes Leben Zeugnis geben, Erstlinge herausrufen. Das andere war des Heilands Sache. Sie tauften oft über Jahre nicht und nur zögernd, eine allgemeine Christianisierung hatten sie nicht im Sinn und standen damit oft genug den Kolonialkirchen im Weg. Ihre Brüder suchten sie sich unter den Verachteten, den Sklaven. Dennoch, der angeblichen Toleranz der großen wie kleinen Kirchen glaubte Anna nicht oder nur deshalb, weil sie sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf dem Rückzug befanden, lediglich auf Bewahrung aus waren. Zu schnell konnten wieder Kreuze errichtet werden. Und dann nicht nur für Märtyrer, sondern auch für Ketzer. Im Namen Gottes. Stellvertretend für einen zu handeln, im Namen eines anderen, konnte zu Anmaßung und Missbrauch von Macht führen, gerade wenn sich die angerufene höchste Instanz außerhalb menschlicher Vernunft und Kontrolle befand und den Dienern dieser Macht allein der Glaube als Rechtfertigung dienen musste. Die frohe Botschaft verhieß Liebe zu den geringsten Brüdern. Doch auch weniger milde Worte standen in der Schrift und damit denen zu Gebote, die sie von Amts wegen oder aus freier Berufung heraus auslegten und sich eine Führungsrolle zuwiesen. Anna war von tiefer Skepsis gegenüber jeder Religion erfüllt, versagte aber denen nicht ihre Achtung, die im Glauben an einen gerechten Gott von anderen wenig, von sich selbst aber alles verlangten.

      Zwischen den Bäumen der Alleen sah Anna einzelne ältere Gottshuter, die sich bald im Spiel zwischen Licht und Schatten der Bäume verloren. Hier waren die Toten lebendiger als die Lebenden. Die Toten flüchteten nicht. Sie warteten geduldig darauf, dass man ihre Namen läse. Wo Witterung und Pflanzenwuchs die Namen ausgelöscht hatten, waren sie als Namenlose anwesend und redeten mit in dem vielstimmigen Chor, der das Zwiegespräch mit den Irdischen forderte, die diesen Ort aufsuchten.

      Am Ende des Gottesackers, mitten auf einer der Alleen, lagen auf Steinsockeln sieben Grabplatten. Ursprünglich hatten sie sich auf ebener Erde befunden, waren aber bei einer Erweiterung des Gottesackers auf den Weg geraten und auf Steinsockel gelegt worden. Der Graf, weltlicher Schutzherr und Mitbegründer des Gottshuter Bruderbundes, sein Jugendfreund, mit dem er schon während seines Hallenser Aufenthaltes im Pädagogium des Pietisten August Hermann Francke einen besonderen Bund zur Bekehrung der Heiden geschlossen hatte, und Mitglieder beider Familien waren hier in außerordentlicher, dennoch für damalige Zeiten bescheidener Weise beigesetzt. Jedem der Gräber war eine Inschrift beigegeben. Auf dem des Grafen las Anna: Er war gesetzt, Frucht zu bringen, und eine Frucht, die da bleibet. Zu seiner Linken ruhte seine erste Frau Erdmuthe Mechthild. Eine Fürstin Gottes unter uns, besagte die Inschrift. Zur rechten Seite des Grafen seine zweite Frau Anna, eine Bürgerliche, die ihren Ehemann nur um zwölf Tage überlebte. Ihr Dienst im Haus des Herrn bleibt ein Segen, wurde über sie gesagt. Anna gefiel, dass sie nach ihr und nicht nach der Fürstin Gottes benannt war. Über Generationen hin hatten sich die Vornamen der beiden Frauen im Bruderbund behauptet. Immer noch erhielten Neugeborene diese Namen, die Anna schon so alt schienen wie die Berge um Gottshut.

      Anna warf noch einen letzten Blick auf die Ovale der Inschriften und das sie umgebende Blattwerk. Von dem Jugendfreund des Grafen bezeugten die Brüder: Er half die Gemeinde von Anfang an bauen, sah sie blühen und grünen, freute sich und legte sich schlafen mit Lob und Dank. Sollte dieser Mann, seines liebsten Bruders treues Herz, wie er sich in einem Brief an seinen Freund bezeichnete, ruhig schlafen. Das weitere Schicksal des Bruderbundes brauchte ihn nicht zu bekümmern. Auch Anna bekümmerte es nicht. Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit, endete ein Lied, das sie in ihrer Kindheit oft gesungen hatte. Auf diesem befriedeten Stück Land konnte sie sogar diese Liebe wünschen und Hoffnung schöpfen, dass es den Menschen gelang, Frieden mit sich selbst und der Erde zu schließen. In diesem Augenblick leugnete sie nicht, dass der Gottesglauben ihr in der Kindheit nicht nur Angst vor dem Tod, vor ewiger Strafe eingeflößt hatte, sondern auch Zuversicht in die Zukunft mitgegeben hatte.

      Langsam lief sie die Sandwege hinunter zum Ausgang. Der Eingangsspruch am Torbogen hatte mit Auferstehung und ewigem Leben getröstet. Der Weg über den Acker Gottes bereitete die Menschen auf das vor, was der Wahrheit wohl näherkam: ER IST DER ERSTLING GEWORDEN UNTER DENEN DIE DA SCHLAFEN. Mit diesem Spruch auf dem Inneren des Torbogens entließ der Park der Seligen die Besucher in die Welt.

      Anna sitzt in Gottshut hinter dem Haus auf der Steintreppe.

      Die dunklen rohen Hölzer der Galerie sind von der Sonne warm und duften. Anna streckt die Beine aus. Noch eine Weile, dann werden die Steinstufen so heiß sein, dass sie sich ihre Fußsohlen verbrennt. Sie überlegt, zum wievielten Mal schon, warum sich die Steinstufen so erhitzen, aber sie selbst, die in derselben Sonne sitzt, niemals einen so heißen Körper bekommt. Sie sieht zum Bahndamm hinüber, und die Sonne macht ihren Kopf leer. Da ist nichts mehr drin außer dem Duft des Holzes und dem Himmel. Dann erinnert sie sich an die Großmutter oben in der Wohnküche. Sonst ist niemand da. Als sie an die Großmutter denkt, kommt ihr eine dunkelblaue Glasschüssel in den Sinn, mit dicker, weißlich blauer Milch darin. Molkenrinnsale. Eine Zuckerschicht über der sauren Milch sinkt langsam ein. Jeden Tag macht die Großmutter ihre saure Milch und teilt sie abends aus der blauen Glasschüssel aus. Das Glas ist so herrlich dunkelblau. Darüber vergisst Anna beinahe, dass das Weiße dicke Milch ist. Sie schaut durch das blaue Glas und denkt an Winter im Missions-Eskimo-Land. Jetzt hilft der Gedanke an eine blaue Schüssel mit saurer Milch nicht mehr. Es wird zu heiß in der Sonne. Sie fasst an die eiserne Haltestange. Einmal möchte sie erleben, dass die sich so erhitzt wie eine Ofentür. Sie springt die Stufen hinunter und geht unter die Galerie, die Annas Haus mit dem Nachbarhaus verbindet. Dort im Schatten kann sie spielen und weiter warmes Holz riechen, weil auch die Galerie aus Holz gemacht ist. In der Erde sind kleine Kuhlen vom Murmelspiel. Sie hockt sich nieder, holt ihr Säckchen Murmeln aus der Tasche und lässt eine nach der anderen in die Kuhle laufen. Glasmurmeln sind dabei und auch eine schönste. Jedes Kind hat Glasmurmeln und eine schönste. Abends kommen die Mädchen aus dem Kindergarten, und sie werden zusammenspielen. Die Friseurtochter, deren Freundin

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