Nest im Kopf. Beate Morgenstern
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Zu Mittag ruft die Großmutter aus dem Küchenfenster: Anna, Anna. Das ist nicht das Annaha-Gerufe von der dicken Frau aus Rosenstetten, das schöne Gesinge. Dafür ist aber die Großmutter Annas eigene Großmutter, und da kann das Rufen wie böse klingen. Es ist ja nicht böse gemeint. Anders als so streng bringt die Großmutter kein Rufen zustande.
In der Wohnküche riecht es komisch. Süß und als wäre man zu schnell gelaufen und schmecke Blut im Mund. Das ist Stadtgas, hat die Großmutter erklärt.
Anna wäscht sich die Hände und deckt den Tisch: Flache-Teller-und-Gabeln heißt das Kommando der Großmutter. Die Großmutter gießt dünnen Eierkuchenteig in die Pfanne. Dabei tütert sie. Sie tütert immer, wenn sie aufgeregt ist. Sie stößt mit der Zunge gegen die Zähne und macht in einem fort: Th-th-th-th. Th-th-th-th. Man bekommt selbst Angst, dass der Großmutter ein Fehler passiert, die Eierkuchen zu schwarz werden oder beim Umdrehen zerreißen.
Außer dem Tütern hat Annas Großmutter noch andere Gewohnheiten. Die Eltern lachen ein bisschen, aber das nimmt die Großmutter nicht übel. Beispielsweise macht die Großmutter in ihrer Kammer früh am Morgen Gymnastik am offenen Fenster. Wahrscheinlich in ihrer Hemdhose, die hinten einen Schlitz hat fürs Klo. Großmutters Hemdhosen hängen immer neben den kleinen Hemdhosen der Kinder auf der Leine. Dann trägt sie auch Leibchen wie kleine Mädchen um die Brust herum. Die Großmutter isst auch Heilerde innerlich. Richtige Erde, gesiebt und gereinigt. Die isst sie morgens, mittags, abends. Außerdem trinkt sie Molke die Menge, isst Quark und viel Schnittlauch. Alles ist sehr gesund und Reform. Vor allem aber ist die Großmutter leicht aufgeregt zu machen. Wenn sie am Tisch mit den Eltern redet, fegt sie Krümel vom Wachstuch, obwohl da schon längst keine mehr liegen. Manchmal scharrt sie sogar mit den Füßen auf dem Boden. Sie regt sich beim Reden, beim Arbeiten, sogar beim Singen und Beten so auf, dass man schon selber aufgeregt wird. Was besonders gut ist an Großmutter: Sie hat gar nicht gemerkt, dass Anna eine Zeit lang von zu Hause fort war, und behandelt sie genauso wie früher. Die anderen haben sich verändert. Bei Mechthild geht's noch. Am meisten hat Anna enttäuscht, dass das dicke Baby nun Erdmuthe ist. Wenn sie schon das dicke Baby war, müsste sie doch wissen, wie lieb Anna sie damals gehabt hat. Jetzt aber will sie gar nichts mehr von ihr wissen. Die Großmutter kommt mit der Pfanne an, schüttet den Eierkuchen auf Annas Teller und stellt das Gas kleiner, das beim Brennen fast wie Wasser rauscht. Sie beten: Komm Herr Jesus, sei unser Gast. Das ist das Gebet für alle Tage. Der Herr Jesus kennt es schon. Er kommt schnell, er labt sich an dem Duft des Eierkuchens, den er Anna beschert hat, mehr braucht er nicht.
Die Eltern machen mit Anna und den Schwestern einen Kretzschmar-Ausflug. Der Vater bringt süßes, dunkles Malzbier aus der Kretzschmarschenke. Er stellt die schweren Gläser auf den Klapptisch im Gartenlokal. Die Beine ruhen sich aus, und der Mund schluckt das süße, teure Malzbier. Er schluckt so viele Schlucke, bis der Magen ganz voll davon ist. Keiner sagt: Aufhören! Zuviel! Die Eltern sind sehr gut zu den Kindern.
Am liebsten lässt sich Anna in die Molkerei schicken. Nirgends ist es sauberer in Gottshut als in dem weiß gekachelten Raum, und alles ist abwaschbar! Die Kacheln, die Schürzen der Frauen, die Schüsseln, die Glasscheiben. Es riecht frisch und säuerlich. Die weiße Magermilch und die etwas gelblichere Vollmilch wird aus silbernen Blechkannen mit silbernen Messkellen geschöpft. In großen Schüsseln liegt locker der Quark. Er wird von zwei Frauen in weißen Gummischürzen in kleine Behälter geschaufelt, die ihnen die Leute geben und auf der großen Waage abgemessen. Hinter der Glasscheibe, die zwischen den Leuten und den Verkäuferinnen ist, sind auf der Marmorplatte Butter und Käse aufgebaut. Nie wird es Anna langweilig beim Warten in der Molkerei. Sie schnuppert und guckt.
Schon ein paar Mal ist Anna auf der Straße angesprochen worden. Bist du eine kleine Herrlich? fragen die älteren Schwestern. Anna schwillt vor Stolz und sagt: Ja. Die Schwestern nicken zufrieden und sagen: Das sieht man. Anna ahnt nicht, woran man das sehen kann. Aber sie findet es sehr gut, dass man sie erkennt und nun nicht mehr zwei, sondern drei kleine Herrlichs durch die Gegend laufen und jeder Anna den Namen Herrlich an der Nasenspitze ansieht. Dadurch ist sie nämlich eine richtige Gottshuterin. Erst wissen es die Erwachsenen und nachher auch alle Kinder.
Die Mutter sagt, die Kinder werden schön lachen, wenn du in die Schule kommst und noch wie ein Baby am Daumen lutschst. Das musst du dir schon abgewöhnen. Sie klebt Anna Heftpflaster um ihren Lieblingsdaumen, damit er 'nicht so gut schmeckt und Anna keine Lust zum Nuckeln hat. Immer, wenn sie sich das Pflaster abreißen will, stellt sie sich vor, dass sie bald in die Schule kommt. Da soll niemand über sie lachen. Anna arbeitet schwer mit sich. So eine schwere Aufgabe hat sie noch nie gehabt. Tatsächlich schafft sie es in zwei Wochen, den Daumen nicht mehr in den Mund zu stecken außer ausnahmsweise mal im Bett.
Die Mutter sagt, das Schütteln abends im Bett ist auch sehr albern. Wie sieht denn das aus. Anna versucht, den Kopf vor dem Einschlafen stillzuhalten. Vielleicht eine halbe Stunde. Sie probiert es mehrere Tage. So schnell gibt sie nicht auf. Aber wenn sie den Kopf stillhält, kann sie nicht einschlafen. Da ist ihr das Einschlafen schließlich doch lieber. Und wer sieht sie schon. Gerade die Schwestern und der liebe Gott. Schade, sie hätte sich gern bewiesen, dass sie ganz und gar über ihren Körper bestimmen kann und alles mit ihm schafft, was sie ernstlich will. Nun ist sie doch keine so große Bestimmerin, wie sie nach dem Abgewöhnen des Daumenlutschens glaubte. Anna bekommt eine erste unklare Vorstellung von dem Begriff sich bezwingen, sich beherrschen, Herr über sich sein.
Abends schläft Anna zweimal ein. Einmal mit den Schwestern im Schlafzimmer. Einmal in der Nacht im Wohnzimmer auf dem Klappbett. Der Vater nimmt sie aus dem Ehebett und trägt sie, so groß, wie sie ist, rüber ins Wohnzimmer, wenn die Erwachsenen ins Bett gehen wollen. Manchmal wacht Anna gar nicht richtig auf. Sie legt ihre Arme um den Hals des Vaters und träumt von den Erwachsenen und dem Licht im Wohnzimmer. Der Traum endet mit einer Enttäuschung. Der Vater nimmt Annas Hände von seinem Hals und legt sie im kalten, harten Klappbett ab. Da friert sie und ist böse.
An ihren vierten Geburtstag kann sich Anna erinnern, weil sie da ihre ersten beiden Bücher geschenkt bekam. Grimms Märchen. Die Eltern sagten ihr ein paar Mal: Das sind nun deine ersten beiden Bücher, und sie sollte sich wer weiß wie über ihre ersten beiden Bücher freuen. Aber sie ärgerte sich nur über die sehr kleine, vertrackte Schrift und darüber, dass sie keine Bilder hatten. Sollten die rosa Bändchen verschimmeln. Auch jetzt hatte sie überhaupt keine Lust auf sie. Die Mutter kann zehnmal auf das Bücherbord zeigen. Die kleine Schrift wird sie nie lesen lernen. Sie will es gar nicht. Und auf die Schule freut sie sich auch nicht. Sie will im Herbst hauptsächlich in den Kindergarten. Vormittags geht sie in die Schule, aber nachmittags, denkt Anna, geht sie dann endlich wieder in den Kindergarten.
An dem Tag, an dem Anna in die Schule kommt, ist der Vater schon wieder abgereist. Die Mutter geht mit Anna über den Kirchplatz. Das Wetter und Anna haben schlechte Laune. Der Himmel ist zu, nur grau, und der Wind bläst den Staub vom Erdboden in die Luft und in die Augen. Das soll nun ein Festtag sein. Nur Sonntage sind Festtage. Und Geburtstag vielleicht. Aber nie ein gewöhnlicher Werktag. In der Schule bekommt Anna eine lila Zuckertüte. Groß ist sie nicht. Andere haben größere. Und später wird sie jede Zuckertüte der Geschwister an dieser Zuckertüte messen und immer wieder finden, dass sie eine sehr, sehr kleine Zuckertüte bekommen hat. Doch jetzt freut sie sich einigermaßen und verliebt sich in den jungen Schulleiter. Auf dem Heimweg kramt sie in der Tüte herum. Unten ist sie mit Zeitungspapier ausgestopft. Was glaubst du denn, sagt die Mutter. Wir konnten doch nicht die ganze Zuckertüte füllen. Das ist klar. Anna war eben mal wieder dumm. Zu Hause erwartet Anna ein ganz anderer Reichtum: Sie hat Post bekommen. Viele Karten von den Familien