Nest im Kopf. Beate Morgenstern

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Nest im Kopf - Beate Morgenstern

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Anna noch nicht. Doch sie ist überzeugt, dass jede Familie aus dem Bruderbund ihr geschrieben hat. Alle Leute denken heute an sie. So eine wichtige Person ist sie. Lange wird Anna die Karten zusammen mit den Sanella- und Knorr-Bildern aufheben. Dann gibt es auch ein Festessen, das die Großmutter gekocht hat, und einen Extragast für Anna: Tante Leonie Fendel. So beliebt hat sich Anna noch nie gefühlt wie an ihrem ersten Schultag.

      Am ersten Unterrichtstag wandern Anna und Paulchen nach der Schule in den Kindergarten zur Tante mit den Silberfäden in den Haaren. Was wollt ihr denn hier? sagt die Tante und tut ganz fremd. Anna und Paulchen erklären ihr, dass sie am Nachmittag noch Zeit haben für den Kindergarten. Nein, nein, was ihr euch denkt, sagt die Tante. Jetzt geht ihr in die Schule. Der Kindergarten ist nicht mehr für euch. Sie hat ganz schwarze Augen, keine Sonnenstrahlen mehr darin. Die sind für Schulkinder auch abgeschafft. Anna begreift nicht, warum die Tante so böse ist.

      In der Schule quält sich Anna. Sie fühlt sich in dem dunklen Unterrichtsraum zwischen zu vielen und fremden Kindern eingesperrt. Eine Dreiviertelstunde hintereinander sitzen alle still und hören auf ein Kommando. Annas Griffel brechen durch, weil sie zu fest auf die Schiefertafel aufdrückt. Die umgekehrten Zuckertüten, die ein A sein sollen, werden zu Himpelchen- und Pimpelchen-Zwergenmützen. Immer hatte Anna eine gute Meinung über ihren Kopf gehabt. Nun sind die Kinder des Bruderbundes besser als sie. Sogar die Friseurtochter.

      Zu Hause plagt sich Anna weiter auf der Schiefertafel. Die Großmutter teilt Kopfnüsse aus und wischt die Tafel ab. Nachher sieht sie von dem vielen Griffelstaub ganz verschmiert aus, und die Buchstaben und Zahlen sind immer noch Krakel. Die Großmutter könnte sagen: Deine drei Onkel waren auch schlechte Schüler, und später haben sie studiert. Und ich habe deinen drei Onkeln und deiner Mutter auch Kopfnüsse gegeben, weil sie die Schiefertafel verschmierten. Aber sie sagt es nicht. Sie denkt, Trost verweichlicht, und Härte bildet den Charakter.

      Wenn Anna mit Paulchen zusammen ist, vergisst sie die Schule. Jeden Nachmittag treffen sie sich. Sie sind unzertrennlich wie in ihrer Kindergartenzeit. Bei Sonnenschein stromern sie mit den anderen beiden Freunden aus dem Kindergarten durch Gottshut. Regnet es, bleiben sie beide in Paulchens Wohnung. Tagsüber hat Paulchen die Wohnung ganz für sich allein, weil Schwester Weinreich in der Erwerbshilfe arbeitet. Schwester Weinreich. Tante Fendel und Annas Mutter sind Freundinnen von der Erwerbshilfe. Am liebsten zeichnet Paulchen mit seinen Wachsbuntstiften. Er zeichnet immer Dampfer. Erst das Schiff mit seinen Deckaufbauten, dann den großen Schornstein, von dem Strippen abgehen. An die Strippen werden bunte Fähnchen gehängt. Die Kajüten bekommen Fenster. Der Teil, der ins Meer hineingeht, runde Kreise. Bullaugen. Das Meer glänzt von dem vielen blauen Wachs. Selbstverständlich fahren die Schiffe nur bei Sonnenschein. Anna denkt an ihren Vater, der früher Matrose war. Woran Paulchen denkt, weiß sie nicht. Sie reden hauptsächlich über technische Einzelheiten und Verbesserungen an ihren Schiffen.

      Die Erwerbshilfefrauen machen auf geschmückten Leiterwagen einen Herbstausflug. Sie sind sehr vergnügt. Anna, Mechthild und Erdmuthe sehen am Straßenrand zu, wie die Frauen in die Wagen einsteigen. Die Frauen singen: Muss i denn, muss i denn zum Städele hinaus, Städele hinaus. Anna sieht das Städele. Rosenstetten. Fachwerkhäuser, enge Straßen. Über das Kopfsteinpflaster rumpeln Fuhrwerke. Spitzige Schatten laufen von der Sonnenseite der Straße die Wände der gegenüberliegenden Fachwerkhäuser hinauf. Anna versteht nicht, warum die Frauen so gern aus dem Städele hinaus wollen. Sie kann Abschied nicht mehr aushalten.

      Der Bruderbund hat sich Gedanken über die Kinder der Erwerbshilfe-Mütter gemacht. Die frühere Lehrerin, Schwester Leonie Fendel, erhält die Erlaubnis, nachmittags im Haslinger-Saal die Kinder bei den Schularbeiten zu beaufsichtigen. Anna geht jetzt nachmittags in den Haslinger-Saal auf dem Hof neben dem Krankenhaus, der sonst als Sitzungssaal dient. Da sitzt sie nun mit einem Häufchen anderer Kinder und übt. Es ist ihr peinlich, dass Tante Fendel, die später erst Tante Leonie heißt, Annas Begriffsstutzigkeit mitbekommt. Doch dann wächst Vertrauen zu der Tante, da diese ihre Meinung über Anna nicht verändert. Tante Leonie Fendel gibt ihr das Gefühl, sie ist ein Kind, das erst anfängt. Das eine Kind hat einen leichten Anfang, das andere einen schweren. Deswegen ist das eine nicht klüger als das andere. Anna ist nachmittags wieder mit den anderen Kindern des Bruderbundes zusammen wie im Kindergarten. Nur sind sie jetzt mit ernsteren Dingen beschäftigt. Dass Anna langsam aufholt, merkt sie selbst nicht.

      Die Flickschneiderin ist bei Anna zu Hause. Sie thront in der Wohnstube inmitten von Kleidern, Stoffresten und zugeschnittenen Teilen, lässt sich durch nichts aus der Ruhe bringen, rattert mit der Nähmaschine, der eine Fuß wippt auf dem Trittbrett auf und nieder, die Hände halten den Stoff, die rechte Hand stoppt das silberne Rad oben, wenn die Naht zu Ende ist. Sie redet mit einer weichen, dunklen Stimme. Die Worte rollen und gurgeln, als hätte sie eine Kuller im Mund. Und einen schönen Leberfleck hat die Flickschneiderin. Er sitzt dick und fett neben ihrer Nase und erweckt Annas unbedingtes Zutrauen zu der fülligen, mehr schwarz- als grauhaarigen Schneiderin aus dem Nachbarort. Solange die Flickschneiderin im Hause ist, ist sie es, die regiert. Kein hartes Wort darf fallen. Dann wird sie nunu-oaber-oaber sagen, loassen Se doch das Kind, gutte Frau. Anna holt sich den Kasten mit dem Leuchtschmuck aus dem Schlafzimmer, setzt sich auf den Boden, zieht sich eine Decke über den Kopf, und die Anstecknadeln beginnen zu glühen in der Dunkelheit. Anna zeigt den Schmuck der Flickschneiderin. Die lächelt und sagt: Noch vonnem Kriege, nunu. Anna wundert sich, dass nach so vielen Jahren das Glas immer noch die Kraft hat, Licht zu sprühen. Niemand erklärt ihr die Bedeutung des Leuchtschmucks in der Zeit der Verdunkelung während der Bombennächte. Dann hätte sie vermutlich später bei dem Märchen von Aladins Wunderlampe nicht an den Kriegsschmuck denken mögen. Nie wieder Krieg steht auf vielen Häuser- und Ruinenwänden. Und darin stimmen die Eltern mit dem Staat überein, in dem sie ihre Kinder großziehen.

      Es gibt einen reichen und einen armen Bäcker in Gottshut. Beide wohnen auf derselben Straße und sind eigentlich Nachbarn, obwohl es zum armen Bäcker viel weiter ist als zum reichen. Der Reiche wohnt in einem neuen Haus vor der Treppe, die in den Himmel führt. Der Arme lange nach der Treppe. Zum Reichen geht man die Stufen hinauf, zum armen die Stufen hinunter. Einmal in der Woche wird Anna zum Bäcker geschickt, um Semmeln für den Sonntag zu holen. Sonst kaufen sie nur Kastenbrot im Konsum. Sie geht immer zu dem armen Bäcker ganz am Ende des Kirchplatzes. Das will die Mutter so, Anna will es auch so. Nur Schwesternküsse aus Eischaum und Zucker kaufen sie beim reichen Bäcker. Der junge arme Bäcker hat eine Kriegskrankheit. Splitter wandern in seinem Körper herum. Manchmal piken sie sich bis zur Haut durch. Dann kann man sie rausziehen. Aber einer kann auch mal zum Herzen wandern. Dann ist es aus mit dem Bäcker. Er muss sterben. Anna denkt viel an ihn. Jede Nacht quälen ihn die Schmerzen, erzählt man sich. Während Anna ruhig einschläft, kann ein Splitter auf das Herz zuwandern. So ungerecht geht es in der Welt zu. Anna macht sich auch Gedanken um die Treppe, die auf dem mit Sand und Erde zugewehten und mit Grasbüscheln bewucherten Grundstück am Kirchplatz stehen geblieben ist. Einmal war dort ein großes Gebäude, der Pilgerhof. Wahrscheinlich ist es über den Menschen zusammengestürzt, und man hat die Trümmer abgetragen. Nur die Treppe blieb übrig. Nun spazieren die Seelen der toten Bewohner von dieser Treppe hinauf in den Himmel und wieder herunter wie die Engel auf der Himmelsleiter, von der Jakob träumte.

      Einmal hat Anna die Mutter ganz für sich allein: als ihr die Wucherungen in einem Dresdener Krankenhaus entfernt werden. Es wuchert in Annas Hals. Sie darf mit der Mutter eine lange Fahrt machen. Erst als sie den Krankenhausgeruch riecht, wird ihr bange. Sie kennt den Geruch, weiß aber nicht woher. Äther, sagt die Mutter. Sie grübelt und wird Tage oder Jahre danach eine Erinnerung haben, die in ihr drittes Lebensjahr zurückreicht: Sie sitzt in einem großen Saal mit vielen Kindern. Alle sind in Eisenbetten. Neben ihrem Bett ist das von Mechthild. Sie bewacht ihre Schwester. Die Eltern werden ihr die Umstände ihres ersten Krankenhausaufenthaltes erklären. Dann ist sie beruhigt über die Kenntnis des Krankenhausgeruchs. Auf einem schwarzen Wachstuchsofa liegt ein Kind und wimmert. Ihm sind schon die Wucherungen rausgenommen worden. Die Mutter redet leise mit Anna. Sie redet schön. Anna nimmt sich fest vor, dass sie es der Mutter nicht schwer machen wird. Im Behandlungsraum ist sie furchtsam und neugierig. Der

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