Dreizehn. Das Tagebuch. Band 1. Carl Wilckens
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End erhob sich von der Pritsche und reckte sich. Kurz sah der Sänger seinen muskulösen, von einem Netz aus Narben überzogenen Rücken, ehe sich der Mann in der Zelle gegenüber das Hemd anzog und vor das vergitterte Fenster trat.
»Zuris, mein Gott, warum hast du uns verlassen?
Hast uns – deinen Kindern – den Rücken gekehrt.
Es ist wohl die Strafe, weil wir vergaßen
dein Wort, das uns deine Priester gelehrt.«
»Wer singt da?«, fragte der Sänger und richtete sich auf seiner Pritsche auf.
»Ein Arbeiter«, antwortete Baxter in der Zelle neben End, während der Gesang allmählich leiser wurde. »Scheinbar ist die Seite eines Nebengebäudes von Blackworth eingestürzt. Jetzt liegen Trümmer auf den Gleisen. Der Mann hat sie in eine Schubkarre verladen und bringt sie weg.«
»Er soll uns mit seiner geschmacklosen Lyrik verschonen«, sagte Storm schlecht gelaunt. Am Vorabend war es dem Insassen gelungen, das Schloss seiner Zellentür zu knacken. Sein Freiraum war allerdings nur um den Zellengang erweitert worden, hatte sich doch der Rahmen der Tür nach draußen verzogen und sie eingeklemmt. Nachdem End Storm beinahe erwürgt hatte, hatte sich der Insasse wie ein geprügelter Hund in seine Zelle zurückgezogen. Er hatte ein Zahnrad des im Zellengang verteilten Uhrwerks, das zwei Tage zuvor der Synaígiesauger in der Rolle des Essensausgebers fallengelassen hatte, aufgelesen und damit den Schließmechanismus der Tür blockiert. »Glaubt er jetzt auch schon, dass das beschissene Ende der Welt kommt?« Er schnaubte. »So ein Schwachsinn.«
Baine in der Zelle gegenüber warf Storm einen zweifelnden Blick zu. »Sieh dir den Himmel an, Genosse.«
»Was gibt es da schon zu sehen?«
»Komm und sieh ihn dir an!«
Widerwillig erhob Storm sich von der Pritsche und trat auf den Zellengang. Er begab sich vor Baines Zelle und spähte durch dessen vergittertes Fenster nach draußen. »Ich sehe nichts.«
»Du musst in die Hocke gehen.«
Storm beugte sich herab, bis sein Gesicht fast den Boden berührte. »Was soll da sein?«
Baine seufzte. »Da ist ein Loch im Himmel, Mann!«
Storm lachte freudlos und kehrte kopfschüttelnd in seine Zelle zurück. »Der Himmel ist keine Wand. Er kann kein Loch haben.«
»Es ist, wie er sagt, Genosse«, brummte Arwin.
»Gewiss ist da irgendwas, das wie ein Loch aussieht«, räumte Storm ein und legte sich wieder auf seine Pritsche. »Nichts, für das die Wissenschaftler an der Treedsgow University keine Erklärung fänden.«
»Treedsgow gibt es nicht mehr.« Wie immer, wenn End sprach – und seien es so leise Worte, dass sie kaum bis ans andere Ende des Zellengangs drangen –, fing er die Aufmerksamkeit der anderen Insassen.
»Tss«, machte Storm abfällig, sobald er das mulmige Gefühl, das Ends Worte ausgelöst hatten, verdaut hatte. »Bist du jetzt auch unter die Auguren gegangen, von denen es in deinen Märchen nicht mangelt? Mir machst du nichts vor, End. Und jetzt seid still! Jemand kommt.« Storm erhob sich abermals von der Pritsche und bezog neben der Tür zum Zellenblock Posten. In der Hand hielt er die Eisenstange aus dem Gehäuse der Lampe des Synaígiesaugers, mit der er das Schloss seiner Zelle geknackt hatte. Schritte näherten sich auf der anderen Seite.
»Du wirst sterben, Storm«, sagte End gleichgültig den Blick nach wie vor aus dem Fenster gerichtet. Die Gewissheit, mit der er die Worte sprach, jagte dem Sänger einen Schauer über den Rücken.
»Storm …«, sagte er schwach, weil er wusste, dass sein Genosse nicht zur Vernunft zu bringen war.
»Maul halten!«, zischte Storm. Auf der anderen Seite der Tür ertönten Stimmen.
»Was ist los?«
»Die Tür ist eingeklemmt, verdammte Scheiße!«
»Schwächling! Lass mich mal versuchen.«
Schnaufen.
»Wer ist jetzt der Schwächling, hä?« Es folgten mehrere Schläge, als jemand mit Wucht vor die Tür trat.
Schritte entfernten sich. »Was hast du vor?«
»Was schon? Ich hole eine Spitzhacke. Wir müssen den Türrahmen erweitern.« Die Stimmen entfernten sich. Einige Minuten lang, in denen der Sänger überlegte, wie er Storm davon überzeugen konnte, sich in seine Zelle zurückzuziehen, herrschte Stille.
Dann kehrten die Stimmen zurück. »… lassen wir die Scheißkerle nicht einfach verhungern? Der schwarze Baron wird sie eh hinrichten lassen. Das hoffe ich jedenfalls.« Die Gefangenen in den jeweils gegenüberliegenden Zellen warfen einander beunruhigte Blicke zu. Waren das dieselben Essensausgeber wie vom Vortag?
Schnaufen und Schläge am Türrahmen ertönten. Mit grimmiger Miene umfasste Storm die Eisenstange.
»Na bitte!«, rief einer der Männer auf der anderen Seite nach einer Weile. Die Spitzhacke fiel klappernd zu Boden, und die Tür zum Zellengang schwang auf. Storm trat vor, die Eisenstange erhoben bereit, sie seinen Widersachern in die Brust zu stoßen.
Ein Schuss ertönte, und die Insassen zuckten zusammen. Storm stolperte rückwärts in den Zellengang und stürzte. Die Kugel hatte ihn in den Bauch getroffen. Er hustete, und Blut spritzte über sein Kinn. Der Mann, der geschossen hatte, baute sich über ihm auf, richtete den Lauf seines Revolvers auf Storms Kopf und zog wiederholt den Abzug durch, bis keine Kugel mehr in der Trommel steckte. Der Kopf des Gefangenen war zu einer albtraumhaft deformierten Grimasse geworden. Sein Blut hatte die Wände gesprenkelt und war bis zu George gespritzt, der sich mit schreckweiten Augen an die Rückwand seiner Zelle drückte.
»Seht ihr, was passiert, wenn ihr versucht, uns zu verarschen?«, brüllte der Mann, der Storm erschossen hatte, und fuchtelte mit dem Revolver herum. »Er war nicht der Erste, der versucht hat, zu entkommen, nachdem sich eine Zellentür durch das Beben geöffnet hat.« Er rammte den Revolver ins Holster, packte Storm bei den Beinen und schleifte ihn eine Blutspur hinter sich herziehend zur Tür hinaus.
Wie auf einem roten Teppich betraten zwei weitere Männer den Zellengang. Einer davon – ein magerer Kerl mit grauem Bart und müdem Blick – ging in Handschellen. Der Gefängniswärter schloss die Tür der ersten Zelle auf der rechten Seite auf und beförderte den Neuankömmling mit einem groben Stoß hinein.
»Sagt Hallo zu eurem neuen Mitgefangenen«, sagte er, nachdem er die Zellentür ins Schloss geworfen hatte. Sein Blick fiel auf die Eisenstange, die Storm fallengelassen hatte. »Was zum …?« Er hob sie auf, betrachtete sie mit einer Miene, als versuche er sich an einer schwierigen Kopfrechnung, und sah schließlich in Storms Zelle. »Mir scheint, die Tür hat sich gar nicht durch das Beben geöffnet«, rief er seinem Partner zu. Seine Schritte schmatzten auf dem blutverschmierten Boden, als er Storms Zelle betrat, mit der Lampe wieder herauskam und den Zellengang verließ. Er warf die Tür hinter sich ins Schloss und schob den Riegel