Im Eckfenster. Gerstäcker Friedrich
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Auch in der sonst nicht zu engen Wohnung sah sie sich beschränkt. Der Gatte musste ein Arbeitszimmer – in dem er nie etwas arbeitete, was er nicht an jedem anderen Tische hätte ebenso gut verrichten können – und ein besonderes Schlafzimmer haben, während sich die Frau gezwungen sah, mit ihren vier Kindern in einem anderen Zimmer zu schlafen, denn eine „gute Stube“ durfte auch natürlich hier nicht fehlen. Wenn sie einmal Besuch bekamen, was das ganze Jahr kaum zweimal vorfiel, war es doch nötig, einen ‚anständigen‘ Platz zu besitzen, in den man die Gäste führen konnte, und deshalb allein atmeten Mutter und Kinder das ganze Jahr lang die ungesunde Stickluft des engen Raumes ein, in dem ihre sämtlichen Betten standen.
Die gute Stube hatte nun jetzt für Constanze Blendheim den Vorteil (da sie neben ihrer Stube lag und mit dieser die ganze Front des Hauses nach dem Brink zu bildete), dass sie dort hinein Herrenbesuch führen konnte, wenn sie jemand aufsuchte, und die Frau Obrichter freute sich dann jedes Mal, dass wieder einmal jemand ihre ‚guten‘ Möbel zu sehen bekam. Sie hatte die kleine Schwäche allerdings, stolz darauf zu sein, denn durch sie waren sie ja, als Teil ihrer Ausstattung, mit in die Wirtschaft gekommen und bis dahin immer mit der größten Achtung behandelt worden.
In dieser „guten Stube“ der Familie empfing auch Constanze Blendheim die Besuche ihres Bräutigams, und die Frau Kalkulator ging dann ab und zu und wirtschaftete auf eine so liebenswürdige und fürsorgliche Weise im Hause herum und sah dabei in ihrem einfachen Kattunröckchen immer so sauber aus, dass es eine ordentliche Freude war, ihr nur zuzusehen. Wie manche lange Nacht sie freilich allein am Waschtrog stand, um sich und ihre Kinder alle so sauber zu halten, wusste niemand, denn sie sprach nie ein Wort darüber, und selbst ihr Gatte wunderte sich manchmal über die stets reine Wäsche. Da er jedoch kein Geld dazu herzugeben brauchte und auch nicht dadurch belästigt wurde, interessierte es ihn zu wenig, um viel darüber nachzudenken oder gar die Ursache zu erfragen; aber er befand sich natürlich wohl dabei.
Constanze hatte den ganzen Nachmittag studiert. Sie war heute Abend nicht beschäftigt und bereitete sich auf eine größere Rolle vor, aber sie horchte doch immer dazwischen nach der Tür, denn Bernhard hatte ihr versprochen, jedenfalls heut gegen Abend noch einmal vorzukommen und ihr Antwort zu sagen, welches Resultat seine mit dem Direktor gepflogene Unterhaltung gehabt. Es war ein böses Zeichen, dass er schon so lange auf sich warten ließ; denn wäre die Antwort zustimmend ausgefallen, so würde er sicherlich keinen Moment versäumt haben, es ihr mitzuteilen – und er kam nicht.
Kalkulator Obrichter war aus seinem Büro schon seit fünf Minuten nach Fünf zurück, und das Regierungsgebäude – in dem er dem Namen nach gearbeitet, in Wirklichkeit seine Stunden nur absaß – lag wenigstens zehn Minuten Weges von seiner Wohnung entfernt – aber lieber Gott, die Uhren gingen so ungleich in der Stadt, und niemand konnte verlangen, dass ein Beamter je den Glockenschlag im Büro abgewartet hätte!
Er trank eben seinen Kaffee und hatte seine Privatzuckerdose neben sich stehen, denn die übrige Familie gab sich keinem solchen Luxus hin, weil der Kalkulator behauptete, er zahle dem Staate schon genug direkte Steuern (und darin hatte er Recht), als dass er sich auch noch zur Extravaganz auf die indirekten stürzen sollte. Da klopfte jemand an. „Herein!“ sagte Herr Obrichter, und Hauptmann von Dürrbeck stand in der Tür.
„Ich störe doch nicht?“
„Bitte, Herr Hauptmann“, sagte der Kalkulator, sich mit einem blaubaumwollenen Taschentuch den Mund wischend, und fuhr von seinem Stuhl auf, denn er achtete das Offizierskorps hoch. „Bitte, belieben Sie näher zu treten!“
„Fräulein Blendheim ist zuhause, wie ich höre?“
„Sie singt wie eine Nachtigall“, sagte der Kalkulator. „Vielleicht eine Tasse Kaffee gefällig?“
„Danke aufrichtig“, sagte der Hauptmann abwehrend – er war einer solchen Einladung einmal gefolgt und ging, als kein besonderer Freund von Zichorien, nicht wieder in die Falle. „Ich möchte das Fräulein nur einen Augenblick sprechen.“
Der Kalkulator lächelte, denn er wusste, was solch ein Augenblick bedeutete. „Wollen Sie gefälligst sich dort hinüber bemühen – Sie kennen ja schon den Weg.“
„Wollen wir nicht noch einen Augenblick warten, bis Fräulein Blendheim geendet hat? Sie singt gar so lieb, und ich möchte sie nicht gern stören.“
Der Beamte schob ihm sehr artig einen Stuhl hin, den Dürrbeck dankend annahm, und jener, in dem Bewusstsein, dass er selber eine sehr angenehme Rente verlieren würde, wenn die junge Dame zum Altar trat, sagte, nach der Richtung deutend, aus der die Töne drangen: „Es würde in der Tat ein schwerer Verlust für das hiesige Theater sein, wenn die junge Dame es quittierte. Hoffentlich steht der Zeitpunkt doch nicht so nahe bevor...“
„Es ist noch unbestimmt, lieber Herr“, erwiderte Dürrbeck ausweichend, denn er wollte dem Gesang der Geliebten lauschen und dachte auch nicht daran, Constanzes Hauswirt zum Vertrauten zu machen.
Der Kalkulator kam noch einmal auf den Kaffee zurück. „Wäre Ihnen denn nicht wenigstens ein halbes Tässchen gefällig? Es ist genug da“, setzte er hinzu, den Deckel der Kanne lüftend. „Meine Frau macht immer reichlich...“
„Ich bin Ihnen wirklich sehr verbunden, verehrter Herr“, wehrte der Hauptmann noch einmal ab. „Ich habe schon lange Kaffee getrunken – Sie nehmen ihn, wie es scheint, sehr spät.“
„Ja, sehen Sie“, erwiderte der Beamte, der plötzlich auf seinem Steckenpferd fest im Sattel saß, denn es handelte sich dabei um seine eigene Person. „Ich tue alles regelmäßig, und ich möchte sagen: nach dem Glockenschlag. Im Sommer morgens um sechs, im Winter um sieben Uhr steh‘ ich auf, und dann muss die Stube schon ein bisschen warm sein; nachher trink‘ ich Kaffee und rauche meine Pfeife dazu, die mir das Linchen, meine älteste Tochter, schon gestopft hat; dann kommt das Tageblatt, das les‘ ich, dann trink‘ ich ein Glas Wasser – ich habe das, besonders in der letzten Zeit, als sehr zuträglich gefunden – nachher rasiere ich mich und ziehe mich langsam an und gehe dann Punkt neun Uhr in mein Büro. Wir sollen eigentlich schon um neun Uhr dort sein, aber so früh kommt doch niemand. Um zwölf Uhr wird dort geschlossen, auch mit dem Glockenschlage. Dann mache ich einen kleinen Spaziergang, immer den nämlichen Weg über die Promenade und gerade zweitausendsechshundert Schritt – ich habe es schon mehrere Male abgezählt -, wonach ich dann Punkt halb ein Uhr, wo wir essen, hier in meiner Wohnung am Tisch sitze. Um ein Uhr sind wir fertig; nach Tische muss ich jedes Mal ein Glas Wasser trinken, denn ich habe gefunden, dass mir das außerordentlich...“
„Ich glaube, Fräulein Blendheim ist am Schlusse“, sagte Dürrbeck, der kein einziges Wort von der ganzen langweiligen Auseinandersetzung gehört oder auch nur darauf geachtet hatte – was ging ihn die Lebensweise dieses oder irgendeines Kalkulators an! „Sie werden entschuldigen, verehrter Herr...“
„Bitte“, sagte der Beamte mit einer Handbewegung, die alles einbegriff, was der Hauptmann nur wünschen konnte – er entließ ihn förmlich, denn dass er in seinen Biographien unterbrochen wurde, war er schon gewohnt, und Dürrbeck eilte zu der Geliebten hinüber, die er durch ein bestimmtes Klopfen in das 'gute Zimmer‘ der Familie zitierte.
„Bernhard“, sagte Constanze mit herzlicher Stimme, als sie dem Ruf rasch Folge leistete. „Wie freue ich mich, dich heute noch einmal zu sprechen – wie habe ich mich danach gesehnt!“
„Du siehst blass aus, mein Herz“, sagte der Hauptmann besorgt, als er einen Kuss auf ihre Lippen gedrückt und ihren Kopf zurückbog, um ihr in die Augen zu sehen – „Fehlt dir etwas?“