Michelle. Reiner Kotulla

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Michelle - Reiner Kotulla

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auf der Uferwiese und hingen ihren Gedanken nach.

      „Ich habe Hunger, Renate, lass uns jetzt zu dem Fischimbiss fahren.“

      Am Abend saßen sie wieder im Wohnzimmer des Hauses in der Friedrichstraße. „Es tut mir leid, Alexander aber ich muss morgen arbeiten und schon früh aus dem Haus. Du kannst natürlich bleiben, solange du willst.“

      „Ich weiß es noch nicht genau, aber ich denke, dass ich bald nach Wetzlar zurückfahren werde. Noch habe ich keine Idee für einen neuen Roman.“

      „Da kann ich dir auch nicht helfen, obwohl ich mir ein Thema vorstellen könnte.“

      „Ich kann mir denken, was dir da vorschwebt. Als du mir das geschändete Grab gezeigt hast, überkam mich eine Art Vorahnung.“

      „Das wäre gut, und wenn du willst, könnte ich dir noch etwas über die Entstehung unserer Vorurteile Juden gegenüber erzählen. Will dich aber nicht in eine bestimmte Richtung drängen.“

      „Das tust du nicht, Renate, und ich höre dir gerne zu.“

      „Gut, ich habe dir von meinem Großvater erzählt, dem SA-Mann. Der war davon überzeugt, dass die Juden nach der Weltherrschaft streben. Die sei ihnen, sagte er, göttlicherseits vorhergesagt worden. Ich las in einer überregionalen Zeitung, dass es jetzt einhundert Jahre her sei, dass ein Grundlagenwerk des modernen Antisemitismus in Russland von einem orthodoxen Priester namens Sergej Nilus veröffentlicht wurde. Die Protokolle der Weisen von Zion heißt das Machwerk, das auf einer Fälschung zaristischer Geheimagenten in Paris beruht. Die hatten behauptet, sie seien über verschlungene Wege an Mitschriften des Zionistischen Kongresses in Basel aus dem Jahre 1897 gekommen. In diesen Protokollen hätten die Juden einen Plan skizziert, wie sie dereinst die Weltherrschaft übernehmen wollten. Jeder kennt die Vorurteile, die in diesen Protokollen wurzeln: Über den Einfluss auf die Presse und das Finanzwesen übten die Juden Druck auf Volk und Regierung aus. So bestimme zum Beispiel eine jüdische Lobby die Außenpolitik der USA. Dazu gehöre auch die Verschwörungstheorie, dass viertausend Juden am Vortag des 11. September 2001 gewarnt worden seien, nicht an ihrem Arbeitsplatz im World Trade Center zu erscheinen.

      Als erster Wissenschaftler hat nun der russische Historiker Michail Lepekhine 1999 Beweise veröffentlicht, die belegen, dass die Protokolle 1898 von einem jungen Anwalt und Propagandisten namens Mathieu Golovinski verfasst wurden. Der zaristische Geheimdienst hatte ihn beauftragt, ein Dokument zu fälschen, das den Zaren glauben machen sollte, Liberalismus und Moderne seien eines der perfiden Mittel, mit denen sich die Juden zur Weltherrschaft aufschwingen wollten. Diese gefälschten Dokumente waren dann auch bald ausschlaggebend für mehrere Pogrome in Russland. In Deutschland hatte der Naziideologe Alfred Rosenberg die 1919 erstmals auf deutsch veröffentlichten Protokolle als Grundlage für seine Arbeiten herangezogen.

      Es hat noch mehrere wissenschaftliche Untersuchungen gegeben, die bewiesen, dass es sich bei den Protokollen um Fälschungen handelte. Und doch, die Protokolle der Weisen von Zion sind heute verbreiteter als zuvor. Man kann mit ihnen die Juden wahlweise für den Kapitalismus oder für den Kommunismus verantwortlich machen. Der Schreiber des Artikels kommt zu dem Schluss, dass selbst, wenn es sich weltweit herumgesprochen hat, dass diese Protokolle nur eine Propagandafälschung sind, die Saat der Verschwörungstheorie längst aufgegangen sei. Ja, und einen Beweis dafür hast du gestern auf dem Friedhof erlebt.“

      „Kannst du mir den Artikel besorgen?“

      „Sicher, ich schicke dir eine E-Mail.“

      Wie damals, als Renate Wetzlar verlassen hatte, wachte er am anderen Morgen auf und fand den Platz neben sich leer vor. Auf ihrem Kopfkissen ein Zettel: „Vielleicht.“ Im Zug dann, zwischen Kassel-Wilhelmshöhe und Gießen, fasste Alexander Fabuschewski den Entschluss, Renates Vorschlag anzunehmen. Nicht wissend, dass auch die Idee nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Aber zunächst verweilten seine Gedanken bei Renate. Fremdheit war nicht aufgekommen, obwohl sie sich eine gewisse Zeit nicht gesehen hatten. Als sie ihn am Bahnhof in Schleswig abgeholt hatte, war es ihm vorgekommen, als sei es erst gestern gewesen, dass sie sich getrennt hatten. Sie hatten für ihr Zusammensein keine erklärenden Worte gebraucht. Obwohl alles wie selbstverständlich passierte, war nichts selbstverständlich gewesen. Und dann der Zettel auf ihrem Kopfkissen. „Vielleicht.“ Das war ihre Antwort auf seine Frage gewesen, damals auf der Terrasse vom Bungalow Nr. 74: „Unser letzter Abend?“

       Drei

      Schon so manches Mal kam ihm der Gedanke, dass es wohl nicht ausreicht, sich hin und wieder zu politischen Fragen zu äußern. Auch die sogenannten Biertischgespräche führten zu keiner gesellschaftlichen Veränderung, selbst dann nicht, wenn man die Lufthoheit über ihm errang. Oft hatte er mit seinem Vater darüber gesprochen. Der war erst vor einiger Zeit aus der SPD ausgetreten. Lange schon habe er das vorgehabt, sagte er, doch immer wieder aufgeschoben. Erst die seiner Ansicht nach verfassungswidrige Beteiligung deutscher Soldaten am Krieg gegen Jugoslawien habe den Ausschlag gegeben. Auch für ihn, Alexander, kam eine Arbeit in dieser Partei nicht infrage. Sie war nicht mehr die Interessenvertreterin der lohnabhängigen Menschen in diesem Land, sondern eher der verlängerte Arm der Arbeitgeberverbände. Der allgemeinen Parteiverdrossenheit mochte er sich aber auch nicht anschließen, obwohl er, was die Schwarzen, die Rosaroten, die Grünen und die Gelben betraf, der Aussage des englischen Satirikers Jonathan Swift zustimmen konnte, der vor 300 Jahren seine Ansicht zu einer politischen Partei so geäußert hatte, dass sie aus einer Horde unselbstständiger, teils korrumpierter, teils einfach opportunistischer Leute bestehe, die von einem einzigen demagogischen Gehirn angestiftet, angeführt, inspiriert und kommandiert werde. Dieses Gehirn, so dachte Alexander, ist nicht das einer einzelnen Person, sondern eher ein Synonym für die Interessen sozialer Schichten oder Klassen.

      Angeregt, darüber nachzudenken, hatte ihn letztlich ein Artikel, den er in einer Tageszeitung gelesen hatte. Dort ging es um den Versuch des Kanzlers, über eine manipulierte Vertrauensfrage Neuwahlen zu erzwingen. „Des Kanzlers Neuwahlcoup“, so hieß es da, sei ein Akt der Piraterie, des puren Narzissmus. Er drücke Endzeitstimmung aus und eine Zockermentalität ohne durchdachtes politisches Kalkül. Der Kanzler pervertiere den Geist des Parlaments, zwinge die eigene Regierungsfraktion unter seine Knute und verhelfe so der Kandidatin der Schwarzen zur Macht. Und warum machen, so fragte sich Alexander, all die einflussreichen Rosaroten dieses Theater mit? Denken und handelten sie nicht genauso, wie Jonathan Swift es damals formulierte? Aber, dachte er, so kann man sicher nicht alle Parteien charakterisieren. Von seinem Vater wusste er, dass dieser schon seit einiger Zeit mit einer sozialistischen Partei sympathisierte, gegenüber der es im Westen des Landes immer noch Vorurteile gab. Man getraue es sich nicht, so sagte er, ihrem Programm zuzustimmen, und vermute hinter ihr immer noch den Stalinismus alter DDR-Prägung. Peter Fabuschewski meinte, das sei falsch, entspräche jedoch bürgerlichem Zeitgeist.

      Alexander nahm sich vor, demnächst noch einmal mit seinem Vater darüber zu reden. Besuchen wollte er ihn sowieso, musste seinen Besuch bei Renate erklären. Er vergaß aber zunächst sein Vorhaben, als er am Abend seinen E-Mail-Briefkasten öffnete. An Michelle Carladis hatte er schon lange nicht mehr gedacht. Jetzt wurde sie zur Ideenlieferantin. Alexander erinnert sich, dass sie, obwohl sie sich anfangs gut verstanden hatten, beim Sie verblieben waren.

       von: [email protected]

       Hallo Herr Fabuschewski,

       Ich wende mich auf diesem Wege an Sie, weil meine Freizügigkeit zurzeit stark eingeschränkt ist. Der Grund für mein von mir selbst gewähltes Exil verbietet es mir, auf andere Weise mit jemandem Kontakt aufzunehmen. Ich habe Vertrauen zu Ihnen und hoffe, dass Sie mir helfen können.

      

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