Die Leiden des Schwarzen Peters. Till Angersbrecht
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Читать онлайн книгу Die Leiden des Schwarzen Peters - Till Angersbrecht страница 14
Für einen Zugereisten wie mich bedeutete das natürlich eine besondere Ehre, aber schon bald wurde daraus auch eine besondere Qual. Denn ihr müsst ja nicht glauben, dass mich dieser Aufstieg in den Dunstkreis des Adels von Goldenberg wirklich glücklich machte. Im Gegenteil, seit ich dort Mundschenk bin, leide ich an einer Melancholie, die mich mit schlaflosen Nächten und wirren Visionen peinigt, da ich die beiden himmlischen Schmetterlinge Phebe und Luna selbst dann nicht aus meinem Kopf zu scheuchen vermag, wenn ich am späten Abend - manchmal war Mitternacht schon vergangen - zurück in die kleine Mansarde schlich, die mir der Apotheker gleich nach meiner Ankunft überlassen hatte, zwei Stockwerke über den Verkaufsräumen gelegen und ein Stockwerk über seinem eigenen Labor, wo er mit geheimnisvollen Gläsern, Flaschen und Phiolen experimentiert. Über diese Melancholie, meinen derzeitigen Zustand, brauche ich mir keine Illusionen zu machen, umso weniger als ich weiß, dass ihr, hochwerter Ältestenrat, ohnehin alle Illusionen durchschaut. Eindeutig liegt ein Fall von Verliebtheit vor, die mich noch dazu in doppeltes Unglück stürzt, weil sie sich zu gleichen Teilen auf beide Schwestern erstreckt, eine Aufspaltung der Gefühle, die geradezu unvermeidlich ist, da die beiden einander so ähnlich sehen wie bekanntlich ein Ei dem anderen. Schon mehrfach habe ich Phebe mit Luna angeredet und umgekehrt Luna mit Phebe, wobei mich die jeweils Angesprochene mit einem klingenden Lachen belohnt, so schön, dass ich meinen Irrtum gern wiederhole - allein dieses Lachen verzaubert mich. Allein deswegen könnte ich sie immer von neuem miteinander verwechseln.
Diese zweifache Verliebtheit erfordert jedoch ihren Preis; ich meine, sie ist doppelt so aufreibend wie der gewöhnliche Fall einer einfachen Leidenschaft. Seit ich das Schloss besuche, habe ich um ganze fünf Kilogramm abgenommen und weiß nicht, wie lange ich dieser Prüfung noch standzuhalten vermag, sie droht, meine Kräfte immer mehr aufzuzehren, zumal ich zum ersten Mal nun auch an mir selber zweifle. Stimmt es denn, so frage ich mich, dass das matte Schokoladenbraun meiner Haut wirklich den Punkt Omega menschlicher Evolution bedeutet? Wenn ihr, hohe Auftraggeber, Luna und Phebe erblicken würdet, dann - so bin ich fest überzeugt - könntet selbst ihr euch eines solchen Zweifels nur schwer erwehren, denn die beiden Schwestern sind von einer rosenfarbenen Komplexion, ihre Haut ist nicht eigentlich weiß, geschweige denn kalkig, wie etwa die geschälten Teile in Bremmes Gesicht. Erinnerungen an die Milchprodukte, die gerade die Region hier um Goldenberg in großer Fülle hervorbringt, kommen bei dem Anblick der beiden Himmelswesen gar nicht erst in Betracht. Ihre Haut besteht aus durchsichtiger Seide, die aber ein feuriges, vulkanisches Rot, das Rot ihres Blutes, geheimnisvoll hindurchschimmern lässt.
Und ja, so muss es auch sein! Wenn es Engel gibt, so hat der Herr dieser Welt bei ihrer Erschaffung doch bestimmt nicht bei den Milchkühen nachgeschaut, sondern nahm Maß an den im frischen Tau rot glühenden Rosen, blickte auf die feurigen Zungen der Vulkane und vielleicht auch noch auf das Freudenrot der am Horizont aufsteigenden Morgensonne.
Jetzt wisst ihr, wie es um mich steht. Nehmt meine Selbstzweifel und mein übriges Betragen, und ihr wisst, was ihr davon zu halten habt. Ja, frei- und reumütig muss ich gestehen: Ich bin verliebt und verstoße dabei, wie mir natürlich deutlich bewusst, eindeutig gegen das Reglement. Ein Beobachter soll, so habt ihr mir eingeschärft, die ihm aufgetragene Arbeit stets mit Gleichmut verrichten - „sine ira et studio“, so nennen sie es hier. Emotional ganz und gar unbeteiligt soll er bleiben, darf sich niemals auf eine gefühlsmäßige Nähe mit den von ihm beobachteten Personen und Objekten einlassen. So lautet die Regel und euer Befehl. Ich weiß es und bin mir meines Vergehens schmerzhaft bewusst. Noch schlimmer wäre es aber, euch im Unklaren über meine Situation zu lassen oder sie gar zu verheimlichen. Ihr würdet mich doch durchschauen und unvermeidlich zur Rechenschaft ziehen.
Der Fall „Kneek“
Jetzt sind sie also hier im Odysseus, Phebe und Luna, wo sie sich neben ihrem Vater, dem alten von Kneek, an einem noch leeren Tisch niedersetzen. Ihr fragt mich, warum lässt sich der Herr Baron dazu herab, sein stolz auf der Höhe gelegenes Schloss zu verlassen, um sich mitten unter das Volk zu begeben - das gemeine Volk, wie man in seinen Kreisen zu sagen pflegt? Merkt er denn gar nicht, wie deplatziert er in einem Piergarten unter einfachen Bürgern wirkt? Ich meine, es ist doch genau so, wie wenn ein längst ausgestorbener Prachtvogel plötzlich wieder zum Leben erwacht und sich unter Schakale mischt, die für sein prachtvolles Gefieder, seine gewählten Manieren, sein vornehmes Auftreten gar keinen Blick besitzen, sondern ausschließlich darauf sinnen, wie sie sich auf ihn stürzen, um ihm die Federn auszureißen. Zum Beispiel entgeht mir keinesfalls, wie Saase, der vertrocknete Chemiker, der sein Pier gern selbst von der Theke holt, um es dann aus der Flasche zu trinken, seinem Nachbarn gerade etwas ins Ohr raunt. Natürlich ahnt er nicht, dass ich, obwohl ein Dutzend Schritte von ihm entfernt, die geflüsterte Bosheit sehr wohl verstehe.
Dass die Familie damals der Guillotine entkam, ist doch wirklich zu schade, sonst bliebe uns der Fall Kneek heute erspart!
„Der Fall Kneek“, ja, so nennen es die boshaften unter den Goldenbergern. Ich sollte den Fall in sämtlichen Einzelheiten mit der Zeit kennenlernen, denn er spaltet die ganze Stadt in zwei sich bitter befehdende Lager. Jeder wird den tief sitzenden Zwist auf Anhieb begreifen, wenn er, so wie ich, zweimal im Monat die Ehre genießt, oben im Schloss als Anstandsknabe zu dienen. Da lebt ein Herr aus früheren Zeiten mit seinen zwei apfelhäutigen Töchtern, die eigentlich - so jedenfalls sehe ich es - gar nicht aus Goldenberg stammen, dieser Stadt piersüchtiger Durchschnittsbürger, sondern von irgendeinem anderen, noch unbekannten Planeten. Wenn Ottokar von Kneek durch den Rittersaal schreitet, wo man zwar vergebens nach Rittern sucht, aber immer noch einen gewaltigen Eichentisch auf vier mächtigen Elefantenfüßen vorfindet, an dem die Familie sich mit ihren Freunden versammelt, dann ist das nicht anders, als wenn sich die Außerirdischen ein Stelldichein gäben, denn der Rittersaal strebt beinahe so in die Höhe wie das Schiff der Backsteinkirche, in der Frieda Torbrück ihre Verabredungen mit Gott und der Gemeinde hält. Die Frau Pastor lässt sich freilich von der Kanzel in die Höhe heben, erst dann blickt man zu ihr auf. Im Schloss ist das gar nicht nötig. Ich meine, ich spüre es ja an mir selbst, wenn ich den Saal betrete: Der Mensch wird von den aufstrebenden Wänden und der weit oben schwebenden Decke gleichsam in die Höhe gesogen, weit über sich selbst hinaus. Wer sonst klein ist, der wird dort groß, wer sich sonst duckt, der strafft unwillkürlich den Rücken, wer sonst unscheinbar ist, der ruft den Schein zur Hilfe, nur damit er vor den strengen Augen der von den Wänden argwöhnisch auf ihn herabblickenden Ahnen besteht. Die längst verblichenen von Kneeks auf all den schwarzen mit feinen Rissen wie von einem Spinnennetz überzogenen Gemälden haben den Gast unerbittlich im Blick, sie, die Toten, sind in Wahrheit die Erwählten, sie sind die Richter, in deren Zügen ich einen unbändigen Stolz und unbeugsame Macht erblicke, denn so ist es im Rittersaal: Noch im Tode dulden sie nichts Gewöhnliches in ihrer Nähe. Ich sage euch, dieser festlich geschmückte Raum duldet keine Alltagsmenschen, wie sie die Stadt bevölkern. Das Geschlecht der von Kneeks ist eine aussterbende Spezies, ein kostbares Andenken an verflossene Zeiten. Der Baron und seine Töchter sind ja die letzten ihrer Art.
Aber genau deswegen fragen sich ja alle: Warum in aller Welt begibt sich der Herr des Schlosses in Niederungen von der Art des Odysseus mit seiner pier- und zotengeschwängerten Luft? Im Grunde kommt er doch aus einer noch viel weiteren Ferne, als man das von mir sagen kann, dem schokoladenhäutigen Fremden. Mit seinen beiden rosenwangigen Töchtern ist er eine Fata Morgana, ein Trugbild, das sich dennoch bemüht, in diesen Niederungen Realität vorzutäuschen – ich finde das unverzeihlich.
Nicht nur, dass ihn hier unten das gewohnte Kleidungsstück nicht umkleidet, ich meine, der rote tunikaähnliche Mantel aus Samt, den er unter seinen Ahnen oben im Schloss zu tragen pflegt, ein prächtiger Mantel, der natürlich den Neid der kleinen Leute erweckt, selbst den des Herrn Bürgermeisters. Ein Schmierenkomödiant, hörte ich Bremme einmal bemerken, aber warum er das sagt, ist mir