Die Leiden des Schwarzen Peters. Till Angersbrecht
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Читать онлайн книгу Die Leiden des Schwarzen Peters - Till Angersbrecht страница 10
Überall regt sich Bildung und Streben,
Alles will sie mit Farben beleben;
Doch an Blumen fehlts im Revier,
Sie nimmt geputzte Menschen dafür.
So ging es einige Verse weiter, während ich voller Staunen auf das sonst so unscheinbare Gesicht des Apothekers blickte, eine verwaschene Physiognomie, aus der sich weder Freude noch Leid ablesen lässt, doch während er diese Zeilen sprach, wurden seine Züge von einem stillen Leuchten erhellt, das zu der üblichen Verdrossenheit in einem staunenswerten Gegensatz stand. Und auch Dönnewat, der Lehrer, sprach mit Begeisterung, als würde ihm eine Vision erscheinen, dabei sprach er doch nur über die Schmelze des Schnees, die hier in Goldenberg gewöhnlich mit Räumfahrzeugen bewältigt wird, deren mächtiges Brummen und Schaben mich gerade an jenem Tag unsanft aus dem Schlaf gerissen hatte. So war ich mir sicher, dass die beiden Redner keines dieser schrecklich brummenden Ungeheuer vor Augen hatten, als sie ihre Verse rezitierten. Es musste ein unsichtbarer Geist sein, der da von oben auf sie herabgestiegen war und sich ihrer Köpfe bemächtigt hatte. Wie ich inzwischen erfahren habe, ist es der Geist eines längst verstorbenen Mannes, ihres größten Dichters, der sich in ihrem Hirn unversehens eingenistet und sie verzaubert hatte.
Dieser Geist war allerdings nicht mächtig genug, um die gleiche Wirkung auch an Bremme oder dem innen wie außen ganz vertrockneten Saase hervorzurufen. Ich bemerkte, wie der Erstere sich schon bei den Worten: „Im Tale grünet Hoffnungsglück“ ungeduldig an seinem unförmigen Schädel zu kratzen begann und ihn dann mit aller Entschiedenheit schüttelte. Vielleicht musste Bremme gerade daran denken, dass in der flachen Ebene, aus der die Stadt Goldenberg ragt, außer einigen aufgelassenen Kiesgruben keine Täler zu finden sind. Der Bürgermeister ist nämlich, wie sie hier sagen, ein Tatsachenmensch, geschult an Tabellen und Listen, wo jeder Eintrag unbedingt stimmen muss. Als Jürgen Julius, der Apotheker, schließlich den Blick ganz ins Weite verlor und mit verklärtem Gesicht die Zeilen sprach:
Sieh nur, sieh! wie behänd sich die Menge
Durch die Gärten und Felder zerschlägt,
Wie der Fluss in Breit und Länge
So manchen lustigen Nachen bewegt,
da vermochte der Bürgermeister seinen Unmut nicht länger zu mäßigen.
Dönnewat, wo ist hier der Fluss?, unterbrach er den Lehrer mit ungehaltener Stimme, noch dazu einer Fistelstimme, die geradezu schneidend wurde, weil sie für einen Mann seiner Statur ungewöhnlich hohe Töne erklomm. Immer wenn Bremme auf diese Art seinen Unwillen bekundet, verstummt ringsum alles Gespräch, die Köpfe ducken sich, die Gestalten in seiner Umgebung schrumpfen merklich zusammen.
So war es auch bei dieser Gelegenheit. Dönnewats Gesichtsmuskeln zuckten, er brachte keine Zeile mehr über die Lippen. Der Apotheker verhauchte nur noch ein „Ach“, dem ich nicht anzuhören vermochte, ob es der tiefsten Verachtung gegenüber einem Rohling entsprang oder fassungslosem Erstaunen. Seit dieser Zeit kam es seltener vor, dass die beiden sich, wie sie es bei der Verlesung solcher Verse bis dahin taten, feierlich erhoben, damit sich die gesamte Tischrunde an den Kostbarkeiten längst verstorbener Dichter erfreute.
Die Zeiten haben sich geändert!, klagten sie, und ich hörte ihrer Stimme an, dass die Achtung, die sie ihren Mitmenschen entgegenbrachten, in raschem Sinkflug begriffen war.
Wissen Sie, raunte Dönnewat, als er vor Eintreffen der anderen Herren mit dem Apotheker alleine am Tisch saß; er flüsterte eigentlich immer, wenn er nicht gerade seine Verse zum Besten gab; ebenso wie seinem Freund war ihm das zu einer Gewohnheit geworden.
Wissen Sie, am Ende wird man das laute Aufsagen von Versen in der Öffentlichkeit zu einem Akt des Aufruhrs erklären, und Bremme wird uns wegen Verbreitung falscher Tatsachen anklagen, weil wir von Flüssen reden, die nicht vorhanden sind, und von Tälern, die hier noch niemand gesehen hat.
Nun stellen Sie sich vor, mein lieber Julius, welche Pein mir erst all die jungen Hohl- und Hitzköpfe in der Schule bereiten, wenn wir hier schon gegen einen erwachsenen Mann wie Bremme ankämpfen müssen! Die muss ich täglich mit der Peitsche traktieren, wie ein Löwenbändiger sozusagen, damit sie die glitzernden Quatsch- und SMS-Apparate wenigstens für ein paar Minuten beiseite legen; diese Hohlköpfe wissen nicht einmal, wie unsere Dichter heißen, und wenn sie es wissen, bedeutet ihnen das überhaupt nichts. Können Sie sich vorstellen, mein lieber Julius, welch unerträgliche Seelenqual ein poetisch sensibler Mensch meiner Art in dieser Folteranstalt Tag für Tag durchstehen muss? Ich frage Sie, wie wird es in unserer Stadt in zwanzig Jahren aussehen, wenn die jungen Barbaren volljährig sind, die Schule verlassen und dann auf freier Wildbahn ihren banausischen Ton angeben? Ich sage Ihnen, dann werden wir Goldenberg nicht mehr wiedererkennen.
Dönnewat ist ein schüchterner Mensch mit einem stillen, aber immer noch jugendlichen Gesicht. Nur wenn er die Verse der Dichter spricht, geht eine Verwandlung mit ihm vor, so als würden die Geister der längst verstorbenen Poeten sich dann seines Kopfes bemächtigen, ihnen gleichsam als Sprachrohr dienen – wie das ja die Geister unserer Ahnen mit Vorliebe tun. Jedenfalls scheint es mir nur so erklärlich, dass er trotz seiner Schüchternheit die Verse mit so viel Feuer zum Besten gibt.
Noch geheimnisvoller kommt mir allerdings Julius vor, der Apotheker, in dessen Haus ich oben im zweiten Stock eine kleine Mansarde bewohne. Begegnet man ihm auf der Straße, so übersieht man seine unscheinbare Gestalt mit dem nichtssagenden Gesicht, aus dem sich keine besonderen Charaktermerkmale ableiten lassen, obwohl man ihn doch als den Inhaber der größten Apotheke der Stadt zu deren führenden Persönlichkeiten rechnen muss. Dass der Mann mit der verwaschenen Physiognomie in seinem Kopf eine Fülle von Geheimnissen trägt, wurde mir bald bewusst. Wie schon gesagt, fiel mir der seltsame Mann schon in den ersten Wochen meines hiesigen Aufenthalts auf, als er die obigen Verse sprach und sein Gesicht sich zu einem wunderbaren Leuchten verklärte. Inzwischen glaube ich zu ahnen, dass dieses leuchtende Gesicht sein eigentliches, sein in der Tiefe verborgenes, sein nur durch die Umstände nach und nach verdrängtes Gesicht ist. Ich ahnte es von dem Augenblick an, als ich es zum ersten Mal wagte – ja, wagte, denn für mich gehörte ein gewisser Mut dazu, so einschüchternd vornehm wirkt die mit Schnörkeln reichlich verzierte Apothekenfassade schon rein äußerlich auf den Besucher – als ich also die Kühnheit aufbrachte, meine Zurückhaltung zu überwinden und, das schwere Eingangsportal zu den Schätzen ihres Inneren öffnend, das Foyer der Pharmazie betrat, weil mich damals ein heftiger Schnupfen plagte, verbunden mit stechendem Kopfweh.
Außer mir gab es in dem halbdunklen Raum noch eine Anzahl weiterer Kunden und zudem noch ein Kommen und Gehen, wobei den gerade abgefertigten Besucher auf der Stelle ein kurz danach eingetroffener ersetzte. Mir sank das Herz in die Hose, denn es war doch damit zu rechnen, dass mein dunkles Gesicht mich in dem nur schwach erhellten Foyer der Apotheke schlechterdings unsichtbar machte. Natürlich brachte ich nicht den Mut auf, mich soweit nach vorn zu drängen, wie es der Reihenfolge meines Eintreffens entsprach. Zu meiner größten Überraschung - ehrlicherweise sollte ich sogar von einem Schrecken sprechen – hatte mich der Apotheker Julius aber aus der finsteren Tiefe seines weitläufigen Geschäftes schon erspäht und trat, wenige Sekunden nachdem ich sein Reich betreten hatte, mit eiligem Schritt hinter die Theke, um sich höchstpersönlich um meinen Fall zu kümmern.
Da ich meine Nase in ein Taschentuch drückte, konnte ihm das Übel, welches mich zu ihm getrieben hatte, nicht verborgen bleiben.
Auch Kopfschmerzen?, fragte er auf knappe Weise, wie es viele Goldenberger im Umgang mit Fremden tun, wenn sie ihnen gegenüber nur Stichworte verwenden, weil sie der Meinung sind, dass der Angeredete die Subtilitäten der Goldenberger Grammatik ohnehin