Die Leiden des Schwarzen Peters. Till Angersbrecht
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Also, wie gesagt, der Mann da vorn am Kreuz regt sich nicht - trotz allen Zaubers, den die Frau Pastor Torbrück von der Kanzel mit mächtiger Stimme wirkt. Vielleicht ist dies der Grund – ich weiß es nicht, aber es kommt mir wahrscheinlich vor, weil der Mensch ja generell zu wüsten Handlungen neigt, wenn man ihn in seinen Erwartungen enttäuscht. Ich meine, vielleicht ist dies der Grund, warum sich die Gläubigen vor lauter Enttäuschung darüber, dass all ihre Beschwörungen nutzlos sind, am Ende an dem Geist rächen und dann etwas Furchtbares tun. Ich kann es vor aller Welt bezeugen, denn ich habe es nicht nur aus dem Mund der Frau Pastor selbst gehört, die sich dabei nicht einmal zu schämen schien, sondern ich habe es in dem großen Haus mit eigenen Augen gesehen: Sie verspeisen den Leib des Herrn. Sie sind Kannibalen!
Diese Erkenntnis hat mich erschüttert, ich fühle mich an ein Märchen erinnert, ein schreckliches Märchen aus meiner Jugendzeit, das ich damals von den Lippen meiner Mutter vernahm. Eines Nachts, als er sich schlafend stellte, hat der Liebhaber eines bezaubernden Mädchens dieses dabei ertappt, wie es sich in aller Stille von dem gemeinsamen Lager erhebt. Noch denkt er sich nichts dabei, glaubt nur, dass sie ein böser Traum aus dem Schlafe reiße. Doch dann sieht er, wie sie nach einem Besen greift, die glatte Haut abstreift und stattdessen das runzlige und warzenübersäte Äußere einer Hexe annimmt, die mit ausgebreiteten Fledermausflügeln zum Fenster in die Nacht hinaus fliegt. Der Liebhaber ist zu Tode erschrocken, nie wieder wird er das gemeinsame Haus aufsuchen.
So wie ihm ergeht es mir mit den Goldenbergern, seit ich von ihrer schrecklichen Sitte weiß, nur dass es für mich kein Entrinnen gibt: Ihr habt mich ja hierher geschickt. Auch wenn mein Leben noch so sehr in Gefahr ist, habe ich auf euer Geheiß meine Mission dennoch fortzuführen. Jetzt aber bin ich mir bewusst, wie sehr mich die Gefahr ständig umlauert. Wer sagt mir denn, dass diese Menschen, wenn sie es in dem großen Haus schon öffentlich tun, nicht auch in privatem Verkehr das Laster der Menschenfresserei betreiben? Die Pastorin gab sich zwar große Mühe, meine Furcht zu zerstreuen. Sie behauptete rundheraus, dass die Goldenberger sonst keine Leiber verspeisen, weder die von lebenden noch die von längst verstorbenen Menschen. In der Kirche handele es sich um einen symbolischen Akt, den ich erst noch verstehen müsste, so weit sei ich eben noch nicht.
Doch weiß ich nicht, ob ich ihr glauben soll, denn es ist ja eine bekannte Tatsache, dass jeder zwar gern über die eigenen Tugenden spricht, aber die Laster in der Regel sorgsam verschweigt. Das sind dann die sogenannten Tabus, über die neimals geredet wird. +++sache, dass jeder zwar gern über die eigenen Tugenden spricht, aber die Laster in der Regel soüber die in der Öffentlichkeit niemals geredet wird ...
Jedenfalls erfüllt mich ein Gefühl tiefreichender Unsicherheit, seit ich mich in die Geisterschachtel vorwagte, denn jedem Beobachter muss ja der Gegensatz ihrer Handlungen in die Augen springen: Ich meine, dass sie erst ihre zu Herzen gehenden Lieder singen, wobei der ganze Kirchenbau von diesem Gesang dröhnt und erbebt, während es über dem Eingang, den sie Empore nennen, nur so scheppert und donnert von all den aufjauchzenden Tönen, die da aus einem ganzen Wald von silbernen Pfeifen und Röhren dringen. Welch ein Spektakel, welche Freude, sagt sich der arglose Fremde, aber dann geben sie sich gleich danach mit dem gleichen Ausdruck der Freude und dem gleichen Leuchten in ihren Augen – Bremme und Saase habe ich ja ständig im Blick gehabt – diesem unseligen Laster hin, als wäre das die natürlichste Sache der Welt.
Wie soll ich mir und euch diesen Widerspruch erklären? Muss ich nicht jederzeit damit rechnen, dass sie hier im Odysseus, wenn die Hure Pier sie so richtig an ihren Busen drückt und sie dabei immer derber und fröhlicher werden, plötzlich ihre Arme zu mir ausstrecken und voller Gier nach mir greifen? Es ist wahr: Meinen bisherigen Beobachtungen zufolge scheinen sich die kannibalischen Neigungen der Einheimischen in erster Linie auf die eigenen Artgenossen zu richten - der Geist, den sie in ihrem Gotteshaus in aller Öffentlichkeit verspeisen, wird am Kreuz ja auch als Mensch von weißer Hautfarbe dargestellt -, aber kann man mir wirklich garantieren, dass sie nicht auch einen braunen Happen wie mich zu schätzen wüssten und gegebenenfalls sogar mit Gusto vertilgen? Vielleicht wäre das dann auch die natürlichste Sache der Welt!
Übrigens fühle ich mich hier noch von anderen Rätseln verfolgt. Was wollte die Frau Pastor denn eigentlich sagen, als sie gegenüber dem Bürgermeister von dem möglichen Versinken ihrer Kirche im Untergrund sprach? Ich kann mir keinen Vers daraus machen. Glauben die Einwohner von Goldenberg etwa, dass die Erde ein aufgeblasener Ballon oder eine Hohlkugel sei, in deren Innerem große Gebäude mitsamt ihren Bewohnern plötzlich verschwinden? Sind sie wirklich zu solchem Aberglauben imstande? Je näher mich meine Tätigkeit im Odysseus mit den Gedanken und Überzeugungen der Eingeborenen bekannt werden lässt, umso mehr plagen mich Unverständnis und Verwirrung.
Vom Eise befreit...
Mai, 4 Monate und 25 Tage vor Erbauung des Gump;
Seelentemperatur: jaulender Wildhund;
Geisterkontakt: keine Verbindung;
Witterung: Lichtblicke.
Lasst euch vom Mai beglücken, den sie hier ihren Wonnemonat nennen, weil die Bäume frische, grüne Kleider tragen, es in ihren Gärten zu blühen beginnt - auch hier im Park rings um das Odysseus leuchten die Rosen -, und weil die Sonne endlich weniger mit ihrem Licht und ihrer Wärme geizt. Der Apotheker Julius und der Lehrer Dönnewat haben schon wieder die gewohnten Plätze bezogen und stecken die Köpfe zusammen. Meist tuscheln sie mit gepresster Stimme und sitzen da wie zwei jugendliche Verschwörer, obwohl sie beide doch schon reiferen Alters sind. Selbst wenn sich alle übrigen Mitglieder der Runde schon mit angespannten bis ehrfürchtigen Blicken der Austeilung der Skatkarten widmen, tauschen sie immer noch irgendwelche Geheimnisse aus, oft sehr leise, aber natürlich entgeht meinen Ohren trotzdem kein Wort.
Wenige Wochen nach Beginn meines Forschungsaufenthalts gelang es mir einmal, den vollen Text ihrer tuschelnden Zweisamkeit zu erfassen. Sie spielten dabei im Duett wie zwei Jungen, die einander gegenseitig den Ball zuwerfen. Auch damals war der Tag sonnig, aber immer noch bitter kalt. Zum ersten Mal hatte es die Herrenrunde gewagt, sich aus dem beheizten Inneren der großen Halle in die Laube zu wagen, wo eine müde Sonne es schwer hatte, die restlichen Schneeflecken auf dem Rasen und den Dächern der Stadt abzuschmelzen. Der Apotheker Julius begann:
Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick,
Im Tale grünet Hoffnungsglück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
Zog sich in raue Berge zurück.
Und Lehrer Dönnewat hob den Finger, blickte ihn an und setzte dann fort:
Von dort her sendet er, fliehend, nur
Ohnmächtige Schauer körnigen Eises