1932. Helmut H. Schulz
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Er steht auf der Straße, er ist erstaunt, wie wenig sich hier verändert hat. Diese Allee war einst sehr ruhig, ihre Rückfront scheint auch heute noch zeitlos-still zu sein, bis auf die vorbeirasselnden Züge der S-Bahn, der Park gegenüber war wie eine Oase, zumindest in seiner Erinnerung. Das heruntergekommene Haus aber zeigt auch heute noch, was es einst gewesen, eine teure Residenz für Ärzte, Anwälte, Akademiker. Die Fassade mit Erkern und Balkons, mit hohen und breiten Fenstern, mit steinernen Figuren neben der Eingangstür erzählt von Wohlstand und von Verfall. Hier residierte einst Moogs Vater, der Anwalt und Strafverteidiger Doktor Einar sen., hier empfing er die Klienten, befehligte er seine Referendare und seinen Bürovorsteher und dieser die Kanzlisten; zuzeiten wimmelte es fast von angestellten und hospitierenden Jüngern der Jurisprudenz, Zivilisten und Uniformierten. Zuweilen überließ Einar auch die vielen Amtsgeschäfte seiner Schwester; der berühmte Strafverteidiger zog sich zum Aktenstudium zurück, erschien wieder auf der Bildfläche, voller Tatkraft, möbelte sein Büro auf, hetzte von Termin zu Termin, sich und seine Untergebenen nicht schonend. Die letzten Jahre von Weimar, dieses von politischen Leidenschaften überkochende Berlin ließen dem Anwalt kaum noch Zeit zu stiller wissenschaftlicher Tätigkeit; er hatte ein Reichstagsmandat der NSDAP inne, er zählte nicht zum engsten, wohl aber zum engeren Kreis der politischen Führung der SS; seine gesellschaftlichen Beziehungen waren weit verzweigt.
Das Notariat der Kanzlei war in einem hohen saalartigen Raum der Vorderhauswohnung im ersten Stock untergebracht gewesen. Man hatte die Wände durchbrechen lassen; auf den Aktentischen und Ablagegestellen türmten sich die Handordner, Zeitungen und Zeitschriften und lose Blattsammlungen neuer Erlasse und Gesetzesnovellen. Die eine Wandhälfte war überdies dem großen Areal von Gesetzesbüchern und Nachschlagewerken vorbehalten. Von diesem Raum aus gelangte der zugelassene Klient in den Arbeitsraum des Anwaltes, dem Allerheiligsten, dem inneren Bereich der ganzen Kanzlei. Der Anwalt beaufsichtigte und verwaltete die Vermögen zahlreicher Politiker und manche Nachlässe oder Vermächtnisse. Hinter dem Schreibtisch Einars war eine mächtige, übermannshohe Metallplatte in die Wand eingelassen, die im Halbrelief ausgeführte Figur eines mit weit gespreizten Beinen prunkenden Ordensritter, den weißen Mantel mit dem schwarzen Kreuz der Brüder vom Deutschen Orden über dem Brustharnisch, das blanke breite Schwert mit der Spitze vor sich in den Boden gepflanzt, die in Stahl steckenden Hände über dem Griff gekreuzt. Hinter dem halb geöffneten Helmvisier war kein Gesicht zu erkennen, ein Panzerreiter, eine trotzige Kampfmaschine ohne Antlitz. Vor diesem Bildwerk pflegte die Sustschina, die Tante, ihrem jungen Neffen die Glaubenslehre der Einars zu verkünden. Er kannte die Geschichte des Ordens, den Aufstieg und Fall in der Schlacht bei Tannenberg gegen das vereinigte polnisch-littauische Heer, kannte die tragische Gestalt des Hochmeisters Ulrich von Jungingen, wusste all die überlieferten Namen der Verteidiger der Marienburg auswendig, ehe er lesen gelernt hatte; die Tante sprach ihm von den leuchtenden Stränden der Bucht, erzählte von der düster-schönen Stadt Riga, ihren prächtigen Häusern, dem mächtigem Palais der Einars in der Bremer Straße, dem Fleiß und der Macht der Deutschen neben den Russen. Im Bücherschrank des Vaters waren die Fotos mit dem sagenhaften Fluchtschlitten Einars aufbewahrt, nein, eingeschreint, er selber in der Wolfsschur mit einem Gewehr in den Händen, ein hagerer, bärtiger Mann mit blitzenden Augen. Hier stand aber auch die Prachtausgabe der Werke Puschkins in Goldschnitt und geprägtem Leder, stand manch kyrillisches neben den deutschen Klassikern, Herder zumal, Goethe, Hölderlin, wurde die riesige alte Familienbibel gezeigt, kaum zu bewegen für einen Knaben und um die halbe Welt mitgeschleppt. Im Arbeitszimmer roch es nach Juchten und nach Tee, nach dem süßlich duftenden leichten Tabak orientalischer Zigaretten, nach Gewehröl aus dem offenen Waffenständer. Berlin besaß damals eine bemerkenswert große russische Kolonie. Die Mehrzahl der adligen Emigranten zog den Berliner Westen als Wohnsitz vor; sie mieteten sich in die stattlichen Häuser in Wilmersdorf ein. Sie wirtschafteten in teuren Pensionen, falls sie Geld genug hatten. Für einige war Berlin nur Durchgangsort, sie reisten weiter nach Paris, London, wanderten nach Amerika aus, durchzogen den Kontinent, aber sie kamen, solange sie auf Papiere und Geld warteten, häufig zum Anwalt; ehemalige Fürsten, hohe zaristische Beamte nahmen bei ihm und der Baronin Sustschina-Einar ihren gewohnten Tee, kamen, um russisch zu sprechen, sich wie in Rußland zu fühlen.
»Nun, German Karlowitsch, Sie haben es hier wie in St.-Petersburg, nicht wahr?«
»Gewiss, Exzellenz, übrigens ein Verdienst meiner Schwester, der Baronin.«
Die Geschäfte gingen gut, mit glücklicher Hand erwarben die Geschwister einige Häuserkomplexe hinzu; sie bebten vor Tatendrang, entschieden schnell und kühn. Seine Prozesse führend, vorsichtig abwägend, setzte sich der Anwalt bei den Gerichten durch. Tagelang überließ er seiner Schwester die Aufsicht über Praxis und Geschäfte, betraute sie mit heikler Korrespondenz. Selten musste er an ihren Maßnahmen etwas bessern; seit ihrer Flucht über die Ostsee hatte sich die Baronin endgültig gefunden; sie war ihrem Bruder vollständig ergeben, wie er es erlernt hatte, sich auf ihre Instinkte zu verlassen ...
Moog betrat das Haus und suchte sich zu erinnern. Von seinem Zimmer aus hatte er die Kuppel der Sternwarte sehen können. Wurde der große Refraktor ausgefahren, dann stand der Knabe Moog gewiss am Fenster, ohne ganz zu verstehen, welchen Sinn und Zweck das gewaltige Rohr wohl haben mochte. Über seinem Arbeitstisch hing er eine Karte des Sternhimmels. Dieses stille Zimmer, sein Refugium und sein eigentliches Reich in dieser Welt, hatte er nicht lange bewohnen sollen. Es war beschlossen, ihn in die Fremde zu schicken. Nun, alles kam dann anders, in Folge der nationalen Revolution, aber Moog hatte zum ersten Male empfindlich gespürt, wie sehr er Schachfigur in der Hand des Vaters war, gelenkt von seinem Willen.
An einem Ende der Wohnetage, der zweiten über der Kanzlei, hatte sich die Baronin einquartiert, mit der Verwaltung ihrer Häuser befasst, mit den juristischen Aufträgen des Bruders und der Politik beschäftigt. Auch im inneren häuslichen Bezirk war sie der Motor, sie trieb den Neffen zum Lernen, die Schwägerin zur Überwindung ihres Bedürfnisses nach Ruhe und ihrem Hang zum Luxus an. Isolde, Moogs Mutter, repräsentierte die Einars nur ungenügend, nach Meinung der Tante. Gelegentlich hielt die Baronin, wie sie allgemein genannt wurde, in ihrem kleinen Salon Zirkel, zu welchem man in zierlich gestochener Schrift auf kleinen Kärtchen geladen wurde; einen Empfangstag lehnte sie als bürgerlich ab. Der Lebensstil ihres Bruders hätte auch keinen festen Tag zugelassen. Sie hielt Verbindung zu einigen Künstlern und Literaten der Stadt, nicht den Erstklassigen der Cliquen aus dem Berliner Westen, aber die ihr genehmen. Einer dieser gediegen arbeitenden, jedem bloßen Experiment abgeneigten, hatte nach einem Foto das naturalistische Ganzbild des ermordeten Gardekapitäns vor einem düsteren Hintergrund gemalt. Es maß anderthalb mal zwei Meter, beherrschte fast eine ganze Wand des Salons und gab der Baronin Gelegenheit, auf die Frage eines mit der Familiengeschichte nicht vertrauten Gastes, wer denn der imposante Herr auf dem Bild sei, zurückhaltende Antworten zu geben, es anderen überlassend, dem Fremden die Sache zu erläutern. Der Mann war tot, sie seine Witwe ...
Moog entsann sich des Verlegers Rewald, der eigentlich hier nichts zu suchen gehabt hätte, würde er nicht durch die Förderung eines Favoriten der Baronin, einem schriftstellernden jungen Offizier, des Privilegs teilhaftig geworden sein, ihren Salon zu beleben. Zu Rewald standen die Geschwister überdies in geschäftlichen Beziehungen; er war der Verleger des berühmten Buches, Einars großen Erlebnisberichtes, »Hinter