Leben - Erben - Sterben. Charlie Meyer

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Leben - Erben - Sterben - Charlie Meyer

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wir einen Abstecher in die Rühler Schweiz, und in der Nähe von Rinteln ließen wir uns nackt in das eiskalte Wasser eines türkisfarbenen Kiesteiches gleiten. Ein vollkommener Tag, wären nicht die belustigten und mitleidigen Blicke der Campingplatzbetreiber gewesen und Dereks wortlose Weigerung, mich auch nur auf einem dieser Gänge nach Canossa zu begleiten. Er blieb im Auto sitzen, versteckte sich hinter seiner Sonnenbrille und las die Landkarte, während ich zu Kreuze kroch und die Männer zu beschwatzen suchte, dem rothaarigen Jungen mit den Rastalocken einen der Zettel auszuhändigen, sobald sie ihn sahen.

      Mehr konnte ich nicht tun. Wollte ich auch gar nicht an diesem Tag. In Bodenwerder kehrten wir in einem bayrischen Biergarten ein, aßen Rippchen vom Holzkohlegrill und tranken eisgekühlte Apfelschorle. Die ganze Zeit über plagte mich ein Hauch von schlechtem Gewissen, wenn ich an Dereks Eltern dachte, seinen Alzheimer-Vater und die Mutter, die an Krebs starb. Sollte er den Sonntag nicht mit ihnen verbringen? Doch ich wagte nicht zu fragen, aus Angst, ihm und mir den Tag zu versauen.

      Abends trennten wir uns schlapp aber friedlich, und keiner bedrängte den anderen mit der Aussicht auf eine feurige Liebesnacht. Ich zumindest wollte nur noch meine Ruhe haben, meinen Sonnenbrand auf Nase und Schultern eincremen und den schönen Tag ausklingen lassen. Allerdings konnte ich nicht umhin zu registrieren, dass sich der rote Alfa Romeo, bis ich hundemüde ins Bett fiel, nicht von der Stelle gerührt hatte. Mein letzter Gedanke vorm Einschlafen galt daher seinen Eltern. Hätte Derek nicht wenigstens abends noch auf ein Stündchen bei ihnen vorbeischauen können? Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass er sie zumindest angerufen hatte (was ich inbrünstig hoffte), doch der Sockel, auf den ich Mister Perfect gestellt hatte, geriet kaum merklich ins Wackeln.

      Sollte er doch nur ein Mensch wie du und ich sein?

      8.

      Doktor Reimann vom Gesundheitsamt blies am Montagmorgen um acht meine Hochstimmung vom Vortag in Nullkommanichts weg. Ich musste mich bis auf BH und Slip ausziehen, vom Fenster zur Tür und wieder zurückwandern - wobei mir ein Zahnarzt aus dem Haus gegenüber interessiert zusah - Kniebeugen machen und mir mit geschlossenen Augen an die Nase tippen. Ich musste meinen Morgenurin abgeben, mir Blut abzapfen, mich wiegen und vermessen lassen und durfte mir dann zur Belohnung die Liste meiner körperlichen Verfehlungen anhören: Übergewicht, Senkfüße, eine Rückgratverkrümmung aufgrund schiefer Hüften (oder umgekehrt?), dazu noch eine leichte Gelbverfärbung meiner Iris, die auf übermäßigen Alkoholgenuss schließen ließ.

      Anschließend hockten wir an seinem Schreibtisch, er dahinter in einem ledernen Chefsessel, ich davor auf einem Holzstuhl, und er fragte mich, warum ich beim Bestatter umgekippt sei. Ich erklärte es ihm in allen grausigen Einzelheiten, und er nickte verständnisvoll und erzählte mir, dass er im ersten Semester Pathologie dreimal hintereinander zu Boden gegangen wäre. Bei seinem Verständnis schöpfte ich neuen Mut, doch da fügte er hinzu, manchmal sei die Bewältigung Körper und Geist herausfordernder Situationen ein wenig mühsam, aber nichts sei Befriedigender, als sich durchzubeißen. Der schönste Sieg sei der Sieg über sich selbst.

      Ich blickte in sein müdes, verhärmtes Gesicht, das Gesicht eines lebenslangen Verlierers gegen sich selbst, und wusste, dass ich verloren hatte. Leute wie er schickten unter dem Mäntelchen armseliger Ehrbarkeit ihre Nachbarn auf den Elektrischen Stuhl, nur um zu verhindern, dass es ihnen im Leben besser erging als ihnen.

      „Ich hätte gern ein psychologisches Gutachten“, entgegnete ich fest. „Außerdem friere ich.“ Jeans und T-Shirt hingen noch immer in der Umkleidekabine am Haken, und mir war wiederholt Doktor Reimanns Blick aufgefallen, der wie fasziniert an meinem Nabel zwischen BH und Slip klebte.

      „Sie bekommen Ihr Gutachten, keine Bange. Und wenn Sie sich anziehen wollen, tun Sie’s um Gottes Willen, niemand will, dass Sie hier nackt herumsitzen. Außerdem dürfen Sie gehen, wir sind fertig.“ Er seufzte, nahm die Brille ab und wischte sich mit einem Taschentuch über die Augen. Bei meinem Anblick im halben Evakostüm waren ihm offenbar die Tränen gekommen. Mir auch, und ich nahm mir vor, endlich auf Diät zu gehen.

      „Wann?“, fragte ich und stand auf.

      „Das Gutachten? Oh, sobald ich es getippt habe“, entgegnete er matt.

      „Entschuldigung, das muss ein Missverständnis sein, ich dachte, wir sprächen von dem Gutachten eines Facharztes.“

      „Tun wir auch. Ich bin nicht nur Allgemeinmediziner, sondern auch Psychiater, also durchaus in der Lage und befugt, ein derart simples Gutachten zu erstellen.“ Er setzte die Brille wieder auf und blinzelte an mir vorbei zum Fenster. Er war nur ein kleiner Mann im weißen Kittel, der zusammengesunken in seinem Chefsessel hockte, ohne dass es in diesem Leben seinen Füßen noch einmal erlaubt sein würde, bis auf den Boden zu reichen. Ich sah in ihm mein Spiegelbild in zwanzig Jahren, wenn ich mich und mein Leben weiterhin so herabwürdigte.

      „Okay, dann würde ich gern meine Gründe wiederholen, warum ich die Stelle ablehne.“ Ich setzte mich wieder und schlug die nackten Beine übereinander. „Ich konnte schließlich nicht ahnen, dass Sie zwei in eins sind.“

      Er seufzte erneut, beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch und das Kinn in die Hände. „Es steht an der Tür: Amtsarzt und Amtspsychiater“, stieß er gequält hervor. „Und es gibt nichts mehr zu besprechen. Sie haben mir Ihr Kümmerchen erzählt, ich habe Ihnen zugehört und werde nun den Bericht fürs Jobcenter schreiben.“

      „Wenn Sie mich zwingen, verklage ich Sie.“

      „Woraufhin? Sie sind eine stabile, gesunde Person, die psychisch wahrscheinlich mehr wegstecken kann als die meisten anderen. Sie ...“

      „Das stimmt nicht, ich leide unter starken Depressionen und kann nicht schlafen. Mein Leben ist zurzeit eine einzige Katastrophe, mein Sohn ist obdachlos, mein Ex ein wandelnder Racheengel, und ich fühlte mich einfach nicht in der Lage, Leichen ihr geronnenes Blut abzuzapfen.“ Ich schrie plötzlich, und hinter mir öffnete sich eine Tür und eine weibliche Stimme fragte: „Alles in Ordnung, Herr Doktor?“

      Er nickte, bevor er einen Bogen Papier aus seiner Schublade kramte und eine Art Zehnpunkteprogramm herunterratterte. „Schlafstörungen und Appetitlosigkeit?“

      „Ja, sage ich doch.“

      Er blickte demonstrativ auf die Fettrolle zwischen Busen und Bauchnabel und murmelte etwas, das wie Lange wohl noch nicht klang.

      „Herz- und Atembeschwerden? Zum Beispiel Herzjagen oder Atemnot?“

      „Ständig.“

      „Mundtrockenheit oder Verstopfung?“

      „Sind mir nicht fremd.“ Ich nickte so leidvoll ich konnte.

      „Minderwertigkeitsgefühle?“ Die erste Frage, die ich mit einem klaren Ja! beantworten konnte, ohne lügen zu müssen.

      „Halten Sie sich für selbstmordgefährdet?“

      Ich zögerte und schätzte die Folgen ab.

      „Wenn ja“, kam mir Doktor Reimann zuvor, „muss ich Sie aufgrund einer endogenen Psychose in die Psychiatrie einweisen lassen. In diesem Fall bräuchten Sie den Job, der Ihnen angeboten wurde, nicht anzunehmen. Jedenfalls nicht gleich. In vier Monaten vielleicht, wenn Sie als geheilt entlassen werden, und der Posten noch immer frei ist, aber keineswegs sofort. Wenn nein, handelt es sich um vorübergehende Depressionen aufgrund häuslicher Unstimmigkeiten, und ich muss Sie nicht einweisen. In diesem Fall empfehle ich gegen die Schlaflosigkeit

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