Von Weiten und Zeiten. Josef Mugler

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Von Weiten und Zeiten - Josef Mugler

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sonst ganz cool bei seinen Streifzügen. Vanessa war nicht irgendeine Gelegenheit, sondern der große Fisch. Aron spürte die Nervosität von Romo. Was ging hier vor? Vanessa kam näher. Romo spannte seine Muskeln an. Wenn nur die Musik aus der Tasche wieder zu trällern begänne! Aber das Handy schlief. „Dann muss ich es eben ohne Musik versuchen!“, schoss es Romo durch den Kopf. Vanessa suchte einen Weg vorbei an den Wartenden bei der Bushaltestelle. Die meisten ignorier­ten sie, einige blickten kurz auf, von der Attraktivität der Erscheinung aufgeweckt, sanken aber alsbald wieder zurück in ihre eigene stumpfe Wirklichkeit.

      Vanessa musste nahe an Romo vorbei. Aron ahnte, was Romo vorhatte. Vielleicht konnte er sich nützlich machen, mit seinem halb gelähmten Arm zum großen Coup etwas beitragen. Er stellte sich Vanessa an der einzigen Stelle, wo ein Durchlass durch den Stau an Menschenleibern offen war, entgegen, begann auf sie einzureden, von gro­ßen Gesten begleitet von einer Botschaft zu stammeln, die er ihr im Auftrag eines vornehmen Herrn überbringen sollte. Wenn sie ihn nicht anhöre, würde er um die ver­sprochene Belohnung kommen und sie eine wichtige Be­gegnung versäumen.

      Vanessa befiel eine Erinnerung, durchzuckte eine Hoff­nung und zögerte, wie Frauen zögern, wenn verloren geglaubte Hoffnungen neu aufblitzen. Romo verstand seine Chance. Die Tasche war nicht ganz geschlossen. Es musste reichen. Wenn nur das Handy...! Seine Finger waren auf dem Weg. Da erwachte das Handy. „Doch nicht jetzt!“, stammelte Romo. Gleichzeitig fühlten seine Fin­ger das Kuvert. Er packte zu und lief und lief und lief.

      Vanessa schnappte nach Luft, brachte einige Augenblicke keinen Ton hervor, dann brach es aus ihr heraus. „Diebe, Diebe, ich bin bestohlen worden!“ Sie blickte in neugie­rige Augen, in abgestumpfte Augen, in fragende Augen, in grinsende Augen. Wo waren hilfreiche Augen, hilfrei­che Arme, hilfreiche Beine? Ihre eigenen Augen, ihre eigenen Arme, ihre eigenen Beine versagten, als sie den Dieb verfolgen wollte. Es war so aussichtslos, hier im Gedränge an der Kreuzung bei der Bushaltestelle.

      „Haben Sie Probleme, Madame?“, hörte sie eine Stimme von links unten. Ach ja, da war doch noch der Junge mit der Botschaft! Für Vanessa in diesem Moment der einzige Lichtblick, der Funken einer Chance, irgendwie die Ver­bindung zu dem gestohlenen Kuvert aufrecht zu erhalten. „Hast du gesehen, was passiert ist?“

      „Ja, habe ich. Vielleicht kann ich Ihnen helfen?“ Das klang eine Spur zu professionell. Vanessa hatte sich in ihren Kontakten zu ausländischen Kunden die Fähigkeit erwor­ben, die feinen Unterschiede zwischen professionellem und herzlichem Mitgefühl wahrzunehmen. Das war nicht der Tonfall eines Helfers, sondern der Tonfall eines Kom­plizen. „Du wirst mich zu ihm führen, sonst bist du selbst dran!“, stieß sie hervor, während sie sich gleichzeitig mit beiden Händen fest in die dunklen Haarbüschel des Jun­gen vergrub und wie eine Katze ihre hoffnungslos unter­legene Beute in Schach hielt.

      „Was geht hier vor?“, sagte eine Stimme – mit Bestimmt­heit und Unauffälligkeit zugleich.

      „Ich bin von zwei Jungen bestohlen worden, der andere ist mit meinem Geld auf und davon. Den hier habe ich! Er muss ein Komplize sein, er hat mich abgelenkt, sodass ich einen Moment unaufmerksam war…“

      „... während der andere sich in ihrer Handtasche be­diente!“

      „Ich weiß nicht. – Doch!“ Jetzt fiel Vanessa das Handy ein, das genau in dem Moment des Diebstahls einen Anruf an­zeigte. „Das Handy! Aber er kann doch nicht... Er war schon vor dem Anruf da. Wie hat er das gemacht?“

      „Kann auch Zufall sein, aber das machen sie jetzt oft so. Wo ein Handy in der Tasche ist, glauben sie mehr zu fin­den. Und recht haben sie!“

      „Wieso wissen Sie das so genau? – Wer sind Sie eigent­lich?“ fragte Vanessa, ihre Fassung langsam wieder ge­winnend.

      „Bin Privatdetektiv. Hatte gerade in der Nähe zu tun. Fra­gen Sie nicht weiter! Ich begleite Sie jetzt zum Lokal der Kollegen vom Amt. Dort geben wir den Jungen ab. Bis da­hin kann er sich überlegen, was er aussagen will. Lassen Sie los!“

      Obwohl der Fremde den Jungen bereits seit einigen Momenten mit einem sicheren Griff in Gewahrsam hatte, waren Vanessas Finger immer noch in dem wüsten Haar­schopf vergraben. Nur langsam konnte sie die Verkramp­fung lösen. Sie schaute vorsichtig ihre Fingerspitzen ent­lang. Der Schaden hielt sich in Grenzen, zwei kleine Risse, ein bisschen Lack da und dort abgesprungen. Ärgerlich, aber nicht das eigentliche Problem, wurde ihr langsam bewusst.

      Aron wurde bewusst, dass er seine Haut nur retten konnte, wenn er sich kooperativ zeigte. Zu tief saß er in der Tinte. Nach dem Ablenkungsmanöver auch noch Hilfe anzubieten, war sein Fehler. Das war zu viel Engagement. Das durfte ihm nicht wieder passieren. Damit er bald wie­der eine Chance bekäme, musste er Romo opfern. Der war schließlich sein Konkurrent. Der nutzte ja auch die Schwäche seiner Verletzung aus. Vielleicht hätte er, Aron, wenn er gesund gewesen wäre, jetzt das vielverspre­chende Kuvert.

      Aron ließ sich nach einigem gespielten Widerstand her­auspressen, dass er wisse, wo der Dieb häufig seine Nächte verbringe. Zwei Männer der Firma „Still und Sicher“ stellten daraufhin Romo auf Gleis 11. Er war völlig überrascht, konnte sich nicht erklären, wieso sie ihn so schnell fanden. Flucht war unmöglich auf diesem Gelände.

      Aron wurde freigelassen. Man hatte das Kuvert bei Romo gefunden. Die Polizei verlangte, dass Vanessa Romo als Dieb identifiziere. Er wurde vorgeführt. Vanessa sah den Jungen, sah ihm in die Augen. Romo sah Vanessa, sah ihr in die Augen. „Ein Gesicht, schön wie ein Engel“, dachte er. So sahen die Frauen in seinem ärmlichen Wohnviertel nicht aus. „Bin ich an einen wirklichen Engel geraten? Wie konnte ich einen Engel bestehlen?“

      Vanessa sah Romo lange an. Würde sie diesen Blick des schmutzigen Jungen je wieder vergessen können? Der Polizeibeamte brummte ungeduldig: „Ist doch alles klar, die Gegenüberstellung nur eine Formalität, erst nach den neuen Gesetzen notwendig, früher hätte man...“ Er unterbrach sich und kehrte von seinen Emotionen zur Sache zurück: „Ein paar Monate Strafanstalt für jugendli­che Rechtsbrecher werden ihm Zeit zum Nachdenken geben. Aber sie kommen alle wieder, wo sollen sie denn hin, wovon sollen sie überleben?“

      Vanessa hörte es nicht mehr. Ihr schien, als blicke sie in das Gesicht eines zitternden Engels, und es schoss ihr durch den Kopf: „Mir begegnet ein Engel in Gestalt eines kleinen Diebes, den sie jetzt zum Verbrecher stempeln werden. Kann es denn manchmal auch zur Arbeit der Engel gehören, dass sie Geld entwenden? Engel sind un­berechenbar. Der mir das Geld zukommen ließ, ist mit Sicherheit kein Engel. Wenigstens hatte ich nie das Gefühl, wenn ich ihm in die Augen blickte!“

      „Nein! Das ist nicht der Dieb!“ sagte Vanessa mit fester Stimme, „auch wenn Sie das Kuvert mit meinem Geld bei ihm gefunden haben.“ Und zu Romo: „Du hast es wohl auf der Straße liegen gesehen! Du dachtest, es hätte jemand verloren. Jemand, dem du wohl nie wieder begegnen würdest, den du nicht kennst und dem du das Geld nie zurückgeben könntest. Hast dir wohl schon Pläne gemacht für deinen kleinen Reichtum? Für deine Eltern, deine Geschwister, sogar für ein paar Freunde würde noch etwas abfallen können. Du hättest es wie ein Engel verwenden und ein bisschen Freude in diesen Tagen bereiten wollen. Ist es nicht so? - Ich gebe dir das Kuvert wieder. Führe aus, was du damit vorhattest!“

      Romo stand einfach still da. Er konnte beim besten Willen nichts hervorbringen. Nicht einmal ein kleines Dankes­wort. Manche Gefühle müssen namenlos bleiben. Engel wissen das. Er grübelte noch lange: „War sie wirklich ein echter Engel? Es war so licht um sie!“

      In ihrem Hotelzimmer fragte Vanessa die Mailbox ihres Handys ab. Es war Fred. Er war wieder da. Doch Vanessa hörte seiner Botschaft nur halb zu. Ihre Gedanken waren woanders. Würde sie den Jungen je wiedersehen? Oder würde er in die Trostlosigkeit seines Alltags zurückkeh­ren, seine „Geschäfte“

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