Von Weiten und Zeiten. Josef Mugler
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„Vanessa, das ist die große Chance für dich – für uns beide, meine ich.“ So endete der Text auf der Mailbox.
„Fred – die große Chance!“ Vanessa wusste nicht recht, warum sie lachen musste. Was war so verkehrt, so komisch an diesem Gedanken? Sie waren ein Team. Jeder wusste, was der andere wollte, brauchte, für nützlich fand. Ein Team! Vanessa erschrak. Sie hatte akzeptiert, eine Rolle in einem Team zu spielen, aber sie hatte mit der Zeit vergessen, dass sie zu nichts anderem engagiert worden war, als für andere Rollen zu spielen. Einfach engagiert, heute sie – morgen eine andere. Jetzt wusste sie es: Sie spielte Rollen, die ihr jemand antrug, weil sie eine gute Schauspielerin war. Eben wurde ihr wieder eine Rolle angeboten. Ihr fiel ein: „Jetzt spielen! Wo mich Wahnsinn umkrallt…“. Die Arie des Bajazzo. Die kannte sie. Durch die Begleitung von Gästen war sie auch mehrmals in die Oper gekommen. Das gehörte auch zu ihren Rollen.
Sie dachte an Romo und sie dachte merkwürdigerweise auch an Aron. Was würden deren Rollen im Leben werden? Würden sie erfolgreich sein? Als Diebe, als Räuber, oder warteten noch schlimmere Rollen auf sie, für die sie von den skrupellosen Impresarios dieser Welt engagiert würden? Sie lachte wieder: „Ist doch komisch, dass man Unternehmer in einem Land Impresarios und in einem anderen Kriminelle nennt.“ Wo stand Fred, ihr Auftraggeber? War das bisschen Gefühl, das er ihr entgegengebracht hatte, bloß Teil seiner Rolle? War er selbst Impresario oder auch nur ein engagierter Schauspieler, den ein viel mächtigerer Impresario feuern würde, sobald die Erfolge ausblieben. Oder war er vielleicht...? Standen sie beide unter dem Druck irgendeines fernen, unnahbaren, aber immer gegenwärtigen Impresarios, der Rollen an sie verteilte?
Fred war wütend, als sie ihm absagte. Sie wäre anderweitig unabkömmlich, habe während seiner Abwesenheit einen größeren Auftrag erhalten. Der beanspruche sie noch eine Weile. Vanessa liefen Tränen über die Wangen. Fred zeigte kein Interesse, sie bald sehen zu wollen. Er sagte nur, er sei in Eile und würde sich bald wieder melden. Sie solle sich die Sache nochmals gut überlegen. Es wäre ungeschickt von ihr, ihn jetzt im Stich zu lassen. Sie solle die Zukunft ihrer Firma nicht aufs Spiel setzen. Ihrer Firma, hatte er gesagt.
Währenddessen saß Romo bleich in seiner Schachtel auf Gleis 11 und starrte das Kuvert an. Ihm wurde klar: Er mußte weg von hier, vielleicht hatte ihn jemand beobachtet, der sich für sein Diebsgut interessierte. Er würde zu seiner Familie gehen. Aber würde man ihm dort glauben, was passiert war?
Romo zitterte, als er die Treppe in den vierten Stock des schäbigen Plattenbaus am Stadtrand hinaufstieg. Niemand war zu Hause. Trostlos lagen alte Kleidungsstücke neben schmutzigen Küchengeräten. Es roch nach billigem Alkohol. Er legte zwei Scheine aus dem Kuvert auf den Tisch und lief die Treppe wieder hinunter, so schnell er konnte. Gewiss, er würde wiederkommen, aber hier konnte er nicht bleiben.
Die Kreuzung war leer. An der Bushaltestelle standen nur wenige Menschen, die müde und gleichgültig warteten. Es wurde dunkel. Ohne Passanten waren auch die Kioske der Straßenhändler verschwunden – und die Diebe, die in der Masse auf Gelegenheiten warteten.
Romo wartete lange und geduldig. Würde sie hier nochmals vorbeikommen? Wenn sie ein Engel war, war sie vielleicht schon ganz woanders auf der Welt im Einsatz. Vielleicht aber, wenn sie wirklich ein Engel war, der den Auftrag hatte, ihm zu helfen, würde sie auch wissen, dass er sie nochmals sprechen wollte.
Als sie einander sahen, wurde es hell um sie in der Finsternis.
Eine Reise nach Prag
Schnell wird es Vorstadt gegen Osten. Remisen, Reparaturwerkstätten und mitlaufende Schnellbahngleise begleiten dich eine Zeit lang wie die Möwen ein aus dem Hafen laufendes Schiff. Die Donau verschläfst du nicht. Die hohen Praterbäume kündigen sie an. Und sie ist breiter geworden, seit dem Kraftwerksbau. „Drüben“ wird die Vorstadt dörflich. Ein Golfplatz inmitten von Apfelbaumplantagen liegt völlig flach da. Er scheint das Marchfeld herauszufordern: durch sein glattes Grün, das sich von der rauen Oberfläche der Baumwipfel und der Erdschollen abhebt, und durch ein paar Hügel, künstliche Bodenwellen wie auf Fahrbahnen, wo sie als Tempobremse eingebaut sind.
Ab und zu fließt ein Bahndamm die Strecke entlang, schneidet den Blick in die weite Ebene ab, schützt die Stadtrandsiedlung vor den Blicken der Reisenden und dämpft das Getöse vorbeirauschender Züge. Rostige Gleise tragen sich dann als Begleiter an, von Gras überwachsen wie die alten Grabsteine auf den Friedhöfen, wo die Familien langsam aussterben. Da führt auch plötzlich ein Gleis weg, hinein in ein Feld wie in ein Niemandsland. Und weiter draußen steht ein Waggon, der dort vergessen wurde. Die jungen Pappeln der Landstraße erinnern an die Koniferen des Südens, freilich nur, wenn sie weit genug weg sind und das Blätterkleid in ihren spitzen Konturen verbergen können.
Die Stationen sind hier großzügig angelegt, weil viel Platz da ist – ganz anders als im engen Wienerwald auf der westlichen Seite der Stadt. Sie bieten nicht nur Abstellgleise für alte Zugsgarnituren, sondern auch für deren bunt schillernde Konkurrenten, die Autos der Park-and-Ride-Gäste, die hier geduldig den ganzen Tag auf die Rückkehr ihrer Herrschaften aus der Stadt warten. Hoch darüber schwingen sich die Kabel der Hochspannungsleitungen. Sie scheinen kein natürliches Bodenhindernis zu kennen, sie müssen nicht ausweichen, hier nicht, weil sich kein Berg entgegenstellt. Aber auch die Häuser am Dorfrand beachten sie nicht und überziehen sie mit ihren elektromagnetischen Feldern und legen den Horizont in Streifen wie ein Landschaftsfoto, das von Kratzspuren durchzogen ist.
Was lebt, zeigt sich hier nicht am hellen Tag, außer den Vögeln, die keine Jäger kennen. Doch die Reglosigkeit in dieser Abfolge von Feldern, Wiesen, Gebüsch und Laubwald trügt. Hier liefert die Natur noch Artenvielfalt: wohlige Beruhigung unseres ökologischen Sinnens, aber grausamer Krieg, jeder gegen jeden, für die Betroffenen, eine Balance des Schreckens: fressen und gefressen werden.
Dürnkrut liegt am Rand eines Wäldchens. Weiter draußen zur rechten Hand begleiten die Auwälder der March und zur linken die Hügelkette, hinter welcher der junge Habsburger auf dem Königsthron in der Entscheidungsschlacht gegen den brüskierten Ottokar von Böhmen seine schnellen Reiter versteckt hielt, damit sie, Konvention und Fairness zumindest in Frage stellend, den Gegner an der verwundbaren Flanke angreifen konnten.
Die Aristokratie in Wien bedauerte den Fall des Böhmenkönigs, mit dem man sich gut arrangiert hatte, der sich selbst gut zurechtfand im österreichischen Herzogtum, auch wenn seine Heirat mit der Babenbergerin Margarethe wohl nur der Staatsräson diente. Aber man war eben bereit, sich mit den Verhältnissen abzufinden, auf beiden Seiten, bis dann der Emporkömmling von der Habichtsburg aus dem fernen Westen auftauchte, von den Kurfürsten zum deutschen König erkoren, und sich bei der Durchsetzung seiner Machtansprüche partout nicht vom mächtigen Böhmenkönig bremsen lassen wollte. Nun musste man sich neuerlich arrangieren in Wien, da der ehemals kleine Graf siegreich vom Schlachtfeld zurückgekehrt war und den Böhmen eine königliche Leiche nach Prag geschickt hatte.
Wenn man heute durch diesen Landstrich fährt, spürt man nichts von einem Geschichtsbewusstsein, keinen Stolz, einmal der Schauplatz einer Entscheidung von europäischer Dimension gewesen zu sein – so wie heute vielleicht das kleine Maastricht, das plötzlich, ein paar Jahre lang wenigstens, jeder Europäer kannte, freilich ohne zu wissen, wo es denn genau liegt.
Grenzregionen