Das letzte Schuljahr. Wilfried Baumannn

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Das letzte Schuljahr - Wilfried Baumannn

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erinnerte er sich immer wieder an den toten Soldaten vor der Kaserne, dessen Gesichtshälfte an die Wand geklatscht war. Seitdem wusste er, dass Gehirn gelblich weiß war.

      In seinen Träumen hörte er manchmal die Verzweiflungsschreie der Frau, die zu ihrem Notquartier kam. Sie hatte ihr Baby zu Hause gelassen, als der Fliegeralarm kam, weil es so schön schlief. Bisher waren die Bomberstaffeln gewöhnlich weitergeflogen und hatten die Stadt verschont. Sie ging mit ihren drei anderen Kindern in den Luftschutzkeller. Das Haus, in dem das Neugeborene schlief, erhielt durch eine verirrte Bombe einen Volltreffer. Das Nachbarhaus, wo sich der Luftschutzkeller befand, blieb verschont. Die ganze Nacht schrie die Mutter verzweifelt nach ihrem Kind.

      In der Stadt erzählten sie die Geschichte von einem Eckhaus, aus dem Rettungsmannschaften Klopfzeichen vernahmen. Kurz vor dem Erreichen des Kellers verstummten die Lebenszeichen. Als der Durchbruch geschafft war, mussten die Retter feststellen, dass ein Wasserrohrbruch ihnen die Arbeit abgenommen hatte.

      Wenige Meter von diesem Geschehen saß ein völlig in sich zusammengebrochener, fast irrer Soldat auf Fronturlaub, der von seinen Angehörigen nur noch verbrannte Knochen gefunden hatte.

      Nein, Horst wollte weder von Krieg, noch von Armee und Säbelrasseln etwas wissen. Nein, er konnte seine Schüler beim besten Willen nicht für einen Armeeberuf begeistern. Er konnte, und er wollte es auch nicht.

      Sie hatten ihn so erzogen, als er ab 1946 die Schule besuchte. Die Fensterscheiben der Klassenräume waren teilweise noch mit Pappe vernagelt, weil es an Glas mangelte. Bei Stromsperre war nur der Lehrertisch mit einer Kerze erhellt. Im Winter spendete ein Kanonenofen, dessen Rohr zum Fenster hinaus ragte, die notwendige Wärme und verbreitete etwas Gemütlichkeit.

      Zu seiner Klasse gehörten fast 40 Kinder. Die Sitzplätze reichten kaum aus. Bücher und Hefte besaßen sie nicht, und die ersten Buchstaben schrieb der kleine Horst Müller auf eine unförmige Schiefertafel, die er aus den Trümmern geholt hatte und die ursprünglich wohl zur Bedeckung des Daches der jetzigen Ruine gedient hatte.

      Jeder Mitschüler hatte sein eigenes Schicksal, erzählte von Flucht, vom Tod des Vaters oder der Eltern, von Verwandten, die vom Suchdienst des Roten Kreuzes auch nicht gefunden wurden.

      Die überwiegende Mehrheit von ihnen hatte Schlimmes durchgemacht, war für immer vom Krieg gezeichnet, hat gesehen, was kindliche Augen niemals hätten erblicken dürfen. Deshalb war das Wort „FRIEDEN“ für sie etwas unheimlich Beglückendes.

      „Kein Krieg, keine Waffen mehr!“, wurde ihnen von den Lehrern gesagt, und sie glaubten daran. Wenn nur nicht der ständige Hunger gewesen wäre! Die erste Schulspeisung nannten sie Eifosuppe. Das war ein undefinierbarer grauer Brei, in dem einige weißliche an Mehl erinnernde Klunkern schwammen.

      Der Geschmack war abscheulich. Aber das „Essen“ war warm, der Magen wurde so einigermaßen gefüllt und das Hungergefühl vertrieben.

      Zu seinen Klassenkameraden gehörten auch Zwillinge, die der Krieg aus dem Osten nach Potsdam verschlagen hatte. Von ihren Eltern wussten sie nichts. Eines Tages fehlten sie. Der Klassenlehrer wollte sie besuchen, fand sie aber nicht. Nach drei Wochen fanden Trümmerfrauen die Beiden in einem halbverschütteten Keller der zahllosen Ruinen, die der Bombenangriff hinterlassen hatte. Der Verwesungsgeruch hatte sie dorthin geleitet. Horst Müllers Klassenkameraden waren verhungert.

      Der Sportunterricht war verpönt, weil er der Wehrertüchtigung diente. Niemals wieder sollte von deutschem Boden Krieg ausgehen.

      Als die ersten FDJ-Umzüge auf den Straßen stattfanden mit Blauhemd und Fanfarenklang, kam in Horst der Schock der letzten Kriegstage wieder hoch, weil er wieder Uniformierte in ihnen sah. Er schrie, als er das erste Nachkriegsfeuerwerk erlebte. Er hatte auch keine Freude an Kriegsspielzeug. Selbst als Abiturient hatte er nachts Träume, in denen er sich verschüttet sah und sich nicht befreien konnte, als die Flammen ihn erreichten.

      Eines Tages erschienen, das war etwa 1958, zwei Offiziere der NVA in der Schule. Horst wurde in das Direktorenzimmer gebeten. Der Klassenleiter befand sich auch in dem Zimmer. In dem Augenblick meinte Horst, die Luft zum Atmen würde ihm genommen. Sie wollten ihn als Offiziersbewerber gewinnen. Die Uniformen sahen fast so aus wie die alten, die er als Kind kennen gelernt hatte. Der Tote vor der Kaserne mit dem halben Gesicht - hatte er nicht auch so eine Uniform? Dazu kam noch der Übelkeit erregende Gestank der Verwesung, der tagelang nicht aus der Nase herausging.

      Nein, nein, nein, ich bin für das Leben da und nicht für den Tod. Horst geriet in Panik, und die machte ihn stur. Er würdigte die anwesenden Herren keines Wortes, beantwortete keine ihrer Fragen und wurde dann schließlich entlassen.

      Seinem Vater, der zwölf Jahre zuerst in der Reichswehr und dann in der Wehrmacht gedient hatte, war es schließlich nur zu verdanken, dass Horst sein Abitur bestehen durfte.

      Er erklärte, sein Sohn sei äußerst sensibel und habe schreckliche Dinge im Krieg erlebt. Er werde mit ihm noch einmal vernünftig darüber reden.

      Das Gespräch fand nach dem Tage statt, an dem Horst mit einigen Freunden in einem Westberliner Kino den Film „Im Westen nichts Neues“ gesehen hatte. Er konnte deshalb seinen Vater kaum verstehen, dass er nun auch noch mit der Armeemasche anfing.

      Doch der Vater verstand seinen Sohn besser, als der es vermutete. Er war wenige Tage vor dem Bombenangriff auf Potsdam in Königsberg, der Hauptstadt des damaligen Ostpreußens, in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten und an TBC erkrankt, völlig abgemagert entlassen worden. Eine russische Ärztin hatte sich für ihn eingesetzt. Müller erfuhr später, dass einige Monate danach die Kriegsgefangenen dieses Lagers bei Nikolajew auf Anordnung Stalins erschossen wurden, nachdem sie auf Befehl mit den eigenen Händen ihr Grab aus der Erde gekratzt hatten.

      Kurz nach dem Mauerbau, am 13. August 1961, sollten alle FDJ-Kollektive der Berliner Humboldt-Universität eine „freiwillige“ Verpflichtung für den Dienst in der Armee unterschreiben, um, wie sie sagten, den Frieden zu schützen.

      Horst war wieder in Bedrängnis. Alle standen gegen ihn, auch wenn sie sagten, er sollte doch ruhig unterschreiben, es wird schon nicht so schlimm werden. Einer seiner Kommilitonen meinte, er habe einmal nicht unterschreiben wollen, und das wäre ihm schlecht bekommen. So bereitete die geleistete Unterschrift Horst viele schlaflose Nächte.

      Er lernte dann einen älteren Studenten kennen, der nicht unterschrieben hatte. Er war von der Schule weg in die Armee Wenck eingezogen worden, hatte Furchtbares erlebt als damals Fünfzehnjähriger des Jahres 1945. Ihn konnte keiner mehr zwingen.

      Eine junge SED-Studentin kam zu Horst und forderte:

      „Du bist doch immer mit K. zusammen. Kannst du ihm nicht einmal sagen, er soll damit aufhören, gegen den Dienst in den bewaffneten Organen zu sprechen?!“

      „Hast du den Krieg miterlebt?“

      „Nein, ich war damals erst ein Baby.“

      „Dann rede auch nicht so kariert.“

      Ja, es gab Situationen, in denen es brenzlig werden konnte. Deshalb fügte Horst hinzu:

      „Falls du jemandem dieses Gespräch weiter erzählen solltest, werde ich natürlich alles ableugnen, oder hast du etwa Zeugen für meine Äußerungen?“

      ***

      Horst sah zu Kurt Mofang hinüber, und es fiel ihm ein, dass der in seinem Werkraum endlich die für jede Klasse gestapelten Schulbücher

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