Das letzte Schuljahr. Wilfried Baumannn

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Das letzte Schuljahr - Wilfried Baumannn

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Jahren erhielt jedes Berliner Schulkind die Bücher unentgeltlich zugeteilt. Leider wurden sie auch wie Geschenktes behandelt, ohne daran zu denken, dass im folgenden Jahr auch noch andere Kinder daraus lernen sollten.

      Horst hatte sich für den nächsten Tag mit den Schülern seiner Klasse verabredet, die ihm bei der Zuteilung helfen wollten.

      Auf jedem Platz sollte die gleiche Anordnung der Buchfolge gewährleistet sein. Das erleichterte die Eintragung der entliehenen Schulbücher in das Klassenbuch, ob sie alt oder neu sind, damit Unstimmigkeiten bei der Rückgabe zum Schuljahresende von vornherein ausgeschaltet wurden.

      Zuerst aber mussten die Bücher aus dem Keller, wo sich Mofangs Wirkungsfeld befand, in den dritten Stock des Gebäudes zum neuen Raum seiner Klasse transportiert werden. Die Schüler, die Herrn Müller bei dieser Arbeit halfen, konnten sich dafür die neuesten Exemplare aller Fachbücher heraussuchen und schon nach Hause mitnehmen. Außerdem galt das als Pluspunkt für gesellschaftlich nützliche Arbeit.

      Seine Schüler halfen gern. Manchmal übertrieben sie sogar ihren Eifer.

      Im Vorjahr wollten sie unbedingt den Klassenraum renovieren. Dabei rissen sie auch eine Tapete herunter, die gut zur Grundierung gedient hätte und strichen die Betondecke mit einer Farbe, die sich nach dem Trocknen leicht ablöste und Lehrern wie Schülern während des Unterrichts auf den Kopf klatschte. Wegen dieser Geschichte bekam Müller Ärger mit der Direktorin und dem lieben Kollegium, weil seine Schüler lieber malern wollten, als den Unterricht zu besuchen.

      Gewissermaßen war das ganze vorangegangene Schuljahr eine Verkettung misslicher Ereignisse für ihn gewesen.

      ***

      Seine Carolin und er hatten sich im Sommer 1987 sehr auf einen gemeinsamen Urlaub im Riesengebirge gefreut, als sie ein Telegramm erhielten, dass sein Schwiegervater schwer erkrankt sei und ein Ableben jederzeit möglich war. Sie fuhren sofort in die kleine Stadt südlich von Leipzig, um dem alten Mann in seinen letzten Stunden beizustehen.

      An Urlaub war natürlich nicht mehr zu denken. Jeden Tag waren sie im Krankenhaus und sahen zu, wie der Vater schwächer und schwächer wurde. Ein Jahr zuvor war er mit seinen 82 Lebensjahren noch ein energiegeladener Mann, der mit viel Aufopferung seine gelähmte Frau pflegte.

      Als sie gestorben war, kümmerte er sich täglich um das Grab, pflanzte Blumen und Strauchgewächse und beschaffte einen würdigen Grabstein. Jetzt stand dieser Stein dort, war bezahlt, und Vater dachte, nun sei alles erledigt. Für ihn war der Zweck seines Lebens erfüllt. Er wollte nur noch Ruhe haben und neben seiner Ehefrau liegen, die ihm ein Leben lang treu war und deren Verlust er nicht verschmerzte. Im Krankenhaus verweigerte er das Essen. Er wollte einfach sterben und sehnte sich nach der anderen Welt.

      Horst Müller erlebte beim Anblick dieses Sterbenden eine innere Einkehr. Seine Tätigkeit an der Schule kam ihm auf einmal leer und sinnlos vor. Wozu lebte er? Existierte er, um den Kindern hohle Phrasen von der Herrlichkeit des Sozialismus zu vermitteln? Was lernten seine Schüler von den menschlichen Seiten des Lebens, von sittlichen Normen, die ein vernünftiges Miteinander ermöglichten?

      Zwar beinhalteten die Pioniergesetze Hilfsbereitschaft, Achtung Erwachsenen gegenüber und natürlich gutes Lernen, aber die politisch-ideologische Seite stand immer im Vordergrund. Gerade gegen das Letzte sträubte sich Müller und fand eine Gesellschaft, in der jeder die gleiche Meinung haben sollte, absolut langweilig. Es gab auch immer Anlässe, zu denen der Partei etwas einfiel, die Aktivitäten des ganzen Volkes anzustacheln, ob das nun Geburtstage berühmter Kommunisten, Parteitage oder Jahrestage waren.

      Der Sterbende im Krankenbett lehrte Horst eine andere Wahrheit: Wenn dein Dasein zu Ende ist, wirst du nicht danach gefragt, ob du in deinem Leben erfolgreich, an so und so vielen Demonstrationen zu irgendwelchen Gedenkanlässen teilgenommen oder eine gute politisch-ideologische Arbeit geleistet hast, sondern was du für deine Mitmenschen gewesen bist.

      Er nahm sich vor, die Kinder nicht mehr mit all diesen hohlen und oft verlogenen Phrasen voll zu füttern, sondern die Wahrheit, soweit er sie erkannt hatte, zu vermitteln. Er wollte für sich den schizophrenen Zustand beenden, der ihn zwang, in der Schule anders zu handeln und zu reden als zu Hause.

      Für die Leiterin des Altersheimes schien der Vater bereits gestorben zu sein. Sie brauchte rein geschäftlich das Zimmer und drängte auf Räumung. Müllers hofften jedoch immer noch auf eine Besserung des Gesundheitszustandes. Zögernd begannen sie die Sachen zu sichten, die der alte Mann besaß. An diesem Tage starb er.

      Die Krankenschwester übergab Carolin die wenigen Habseligkeiten, die ihr Vater im Krankenhaus besaß: einen Löffel, Toilettenpapier, einen Stock, eine Armbanduhr und einen defekten Kassettenrekorder.

      Der Vater war ein alter Lehrer. Was hatte sich im Laufe der Zeit nicht alles an Krempel und Schriftkram angesammelt! Horst und Carolin verzweifelten fast bei den Aufräumungsarbeiten. Die unbrauchbaren Sachen füllten bald einen ganzen Container. Die alten Möbel nahm glücklicherweise der An- und Verkauf ab.

      Das Antiquariat wollte allerdings nicht alle Bücher kaufen, so dass die übriggebliebenen zusammen mit Lumpen und Zeitungen zum Altstoffhandel gebracht wurden.

      Sie schafften die Arbeit erst in zwei Tagen und fuhren am letzten Tag der Schulferien, ohne etwas gegessen zu haben, völlig genervt und geschwächt nach Berlin zurück.

      „Vater, ich habe deiner Chefin gesagt, dass du erst am Mittwoch zur Schule kommen kannst und ihr auch den Grund genannt. Weißt du, was sie mir zur Antwort gab? - Du bist unkollegial, weil du dadurch nicht rechtzeitig zur Buchausgabe für deine Schüler kommst. Ich erwiderte, dass in solch einer persönlichen Situation wohl eine Bemerkung wie diese nicht richtig wäre. Daraufhin lenkte sie ein“, berichtete Müllers Sohn.

      Müller verstand die Direktorin nicht. Er hatte sie, bevor sie ihre Stelle an seiner Schule antrat, bei irgendeiner Feier der Abteilung Volksbildung, zu der er eingeladen worden war, kennen gelernt.

      Er fand sie damals sehr nett und plauderte auch eine Zeit lang mit ihr, da sie zufällig neben ihm Platz genommen hatte. Ja, sie duzten sich danach sogar.

      Wie war ihre Reaktion auf den Tod seines Schwiegervaters zu

      erklären, fragte er sich. Nicht einmal ein „Herzliches Beileid“ hatte sie übermitteln lassen, sondern, er wäre „unkollegial“.

      Damals, bei der Feier, ahnte er noch nicht, dass sie einmal seine Vorgesetzte werden sollte.

      Er plauderte mit ihr frei von der Leber weg und erzählte ihr politische Witze:

      „Honecker begrüßt Breschnew. Was hat Breschnew über Honecker gedacht?“

      Frau Sanam wusste es nicht.

      „Er dachte: Klein ist der Honecker ja, aber küssen kann er sehr gut“, lachte Müller in froher Stimmung.

      Er bemerkte in seinem angeheiterten Zustand nicht, dass sie nur gezwungenermaßen sauer lächelte.

      Wie konnte Müller ahnen, dass er von nun an von der sympathischen Kollegin anvisiert wurde? Ihr Mann war Offizier beim Ministerium für Staatssicherheit und dort für die politisch-ideologische Schulung verantwortlich.

      Der Tod des Schwiegervaters hatte Horst durcheinander gebracht. Er fand den Rummel um die FDJ-Arbeit, die Vorbereitung der FDJ-Wahl, die Klassenelternaktivwahl und den ganzen politischen Krempel völlig unwichtig.

      Er sehnte sich

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