Das letzte Schuljahr. Wilfried Baumannn

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Das letzte Schuljahr - Wilfried Baumannn

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Mutter hätte sie doch nur einmal umarmen sollen! Dörte sehnte sich nach Geborgenheit und elterlicher Liebe. Die Mutter aber hasste ihre Tochter abgrundtief. Dörte lief von zu Hause fort und blieb Tage lang verschwunden. Sie war bei Bekannten untergetaucht, einer freundlichen Familie, die sie wie ihre eigene Tochter behandelte. Die Volkspolizei suchte das Mädchen. Die Schule wurde eingeschaltet.

      Die Lehrer und Klassenkameraden wurden um Auskunft gebeten. Es war alles umsonst, bis sich die Familie meldete, bei der sie untergetaucht war. Zur Begründung ihres langen Schweigens gaben sie an, dass Dörte sich erst einmal beruhigen sollte, bis sie sich zu weiteren Schritten entschlossen.

      Als die Mutter schwanger war, wollte sie das Kind unbedingt abtreiben. Dann trug sie es aber doch aus und lehnte es vom ersten Tage an ab. Es war ihren zahlreichen Männerbekanntschaften im Wege. Später steckte sie das Kind in ein Heim. Als Dörte in die 8. Klasse kam, besann sich die Mutter auf ihre Tochter und holte sie zu sich. Das ging aber nur ein Jahr lang gut. Wegen Kleinigkeiten kam es zu Auseinandersetzungen. Das hielt das Mädchen schließlich nicht mehr aus. Die nachfolgende Gerichtsverhandlung entzog der Mutter nun endgültig das Sorgerecht, und Dörte kam auf eigenen Wunsch wieder in ein Heim, da die Familie sie nicht auf Dauer aufnehmen konnte.

      Ja, das waren Probleme, mit denen es Müller immer wieder zu tun hatte.

      In seinem Fach fand er das neue Lehrstellenverzeichnis - gleich drei Exemplare. Am ersten Schultag wollte er sie nach einem Verteilerschlüssel an seine Schüler weitergeben.

      Schon seit der 6. Klasse erfasste er die Berufswünsche der Kinder, holte hin und wieder durch die Eltern den Vertreter eines Berufszweiges in die Schule, der sein Fachgebiet vorstellte. So wussten seine Schüler, welche Berufszweige in Berlin gebraucht wurden. Am effektivsten war es jedoch immer, wenn ein Vertreter des Berufsberatungszentrums, das in jedem Stadtbezirk errichtet worden war, vor der Klasse sprach und kompetent die zahlreichen Fragen beantwortete.

      Vor den Herbstferien erhielten dann alle Schüler der 10. Klasse am letzten Schultag ihre Berufsbewerbungskarten mit Ausnahme derjenigen, die eine Erweiterte Oberschule besuchen durften. Auch Behinderte konnten sich schon vorher bewerben. Wer nach den Herbstferien noch keine Lehrstelle hatte, fragte oft bei den Berufsberatungszentren nach, da diese stets den Rücklauf über noch freie Lehrstellen zentral erfassten.

      Hatte ein Schüler seine sichere Lehrstelle, wurde die Bewerbungskarte vom Lehrbetrieb an die Schule zurückgeschickt. So wusste der Klassenleiter immer Bescheid, wem bei der Lehrstellensuche noch geholfen werden musste. Meistens wussten alle Schüler am Ende des Schuljahres, wo sie ihren Beruf erlernen konnten.

      Nach der Lehrzeit war auch der Arbeitsplatz so gut wie sicher, und sie brauchten keine Sorge zu tragen, dass sie ihn jemals verlieren würden. So ging alles seinen sozialistischen Gang, und das Wort „Arbeitslosigkeit“ war für sie ein Begriff der absterbenden kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Offiziell gab es Arbeitslose nicht. Wer sprach schon von denen, die einen Antrag auf Ausbürgerung gestellt hatten und zum Klassenfeind in den Westen gehen wollten? Was nicht sein durfte, war eben nicht vorhanden.

      Den unmittelbaren Kontakt zu der Arbeiterklasse erhielten die Kinder durch ihre Patenbrigade aus irgendeinem VEB und besonders von der 7. Klasse an durch den PA- und ESP-Unterricht*. Die Patenbrigade beteiligte sich an der Gestaltung von Pioniernachmittagen, spendierte Gelder für die Klassenfahrt oder half auch bei der Renovierung des Klassenraumes und schickte Betreuer bei Exkursionen an Wandertagen. Natürlich waren ihre Vertreter auch bei der Zeugnisausgabe zugegen und beschenkten die leistungsbesten Schüler. Im Betrieb war so eine Patenschaft für die Brigade ein Pluspunkt zur Erreichung des Zieles „Kollektiv der sozialistischen Arbeit“ zu werden.

      In den Lehrwerkstätten des Patenbetriebes lernten die Schüler praktische Tätigkeiten wie Feilen, Sägen, Bohren, Gewindeschneiden, kurz Dinge und Fertigkeiten, die sie im täglichen Leben gut anwenden konnten. Jede Schule der DDR hatte vertragliche Bindungen mit einem Patenbetrieb. Es kam nicht selten vor, dass dieser Betrieb bevorzugt Lehrlinge ausbildete, die ihre Prüfungen an der Patenschule abgeschlossen hatten. Die Patenbrigade, die eine Klasse betreute, musste aber nicht unbedingt aus dem Patenbetrieb kommen, sondern konnte auch von den Klasseneltern vermittelt werden.

      *PA: Produktive Arbeit der Schüler als Unterrichtsfach in der Lehrwerkstätte eines Volkseigenen Betriebes (VEB) - eine Weiterführung des Werkunterrichts der Unterstufe

       ESP: Einführung in die sozialistische Produktion, eine Art Betriebswirtschaftslehre, wurde auch meist im VEB unterrichtet.

       Ideologisches Ziel war die Verbindung der Schüler mit den Werktätigen, der Arbeiterklasse und damit auch der SED, die sich gerne Partei der Arbeiterklasse nannte.

       Er war auch verbunden mit theoretischen Unterweisungen für die folgenden Arbeiten im PA-Unterricht (z.B. Technisches Zeichnen usw.)

       PA und ESP wurden in der Schulplanung mit der Abkürzung UTP zusammengefasst, d.h. Unterrichtstag in der Produktion.

       Die dort vermittelten theoretischen und praktischen handwerklichen Fähigkeiten, z.B. Feilen, Gewindeschneiden, Bohren, Entwerfen von elektrischen Schaltkreisen usw. waren für die Schüler durchaus nützlich im weiteren Leben nach der Schulzeit.

      Fahnenappell und Schuljahresbeginn

      Der 1. September des Jahres 1988 war ein Donnerstag.

      Das Schuljahr begann mit dem üblichen Appell zum Weltfriedenstag, da am 1.9.1939 der 2. Weltkrieg begonnen hatte.

      Die FDJler trugen ihre Verbandskleidung, das blaue Hemd, die Jungpioniere das weiße Hemd mit blauem und die Thälmannpioniere mit rotem Halstuch.

      Kinder und Schüler, die vergessen hatten ihre Verbandskleidung anzulegen, wurden von den Klassenlehrern zur Rechenschaft gezogen. Auch Müller tat es. So war man es halt gewohnt, denn wer wollte schon Ärger mit dem Direktor bekommen und der wieder nicht mit den Vertretern der Abteilung Volksbildung und den Genosseneltern.

      Kurt Mofang hatte die Beschallungsanlage in Ordnung gebracht. Über den Schulhof klang lustige Marschmusik von einer Schallkonserve, die das Wachregiment der Schule geschenkt hatte. Die Mikrofone waren geschärft und gaben jeden Ton wieder.

      Rechts und links neben der Schule warteten die Schüler und Lehrer auf ihre Auftrittsmusik, um sich dann im latschigen Ungleichtrott zum Appellplatz zu begeben. Dort besaß jede Klasse ihr zuständiges Karree.

      Das musste aber von ihr zum Schuljahresbeginn erneut ausfindig gemacht werden, da sie ja wieder um eine Stufe höher gerückt war.

      Als die Fanfare rief, setzte sich auch Müllers Klasse mit den anderen in Gang. Die Schüler schnatterten über ihre letzten Ferienerlebnisse und äußerten ihren Unmut, dass die blöde Penne wieder begann. Selbst auf dem „heiligen“ Appellplatz wollten sie nicht zur Ruhe kommen, so dass Müller eingreifen musste, stimuliert von dem strafenden Blick der Direktorin, die zu ihm von der Eingangstreppe herüber zu blicken schien.

      Wie Müller diese Appelle mit ihrem ganzen militärischen Gehabe hasste!

      In der Zeit hätte er schon den Stundenplan diktieren, die Buchfrage erledigen, über wichtige Fragen des kommenden 10. Schuljahres und die damit verbundenen Probleme in einer Abschlussklasse sprechen können.

      Die Pionierleiterin brüllte mit ihrer hellen Kommandostimme:

      „Pioniere,

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