Federträger. Yves Holland
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Fandor wusste nicht, wie er auf die Idee kam. Er sollte sich auch später nicht mehr daran erinnern. Es war ein Reflex.
Der Bär verbreitete einen starken Gestank nach Moschus, Aas und Nervosität. Er begann nun langsam auf Thorn zuzulaufen, sich von links nach rechts und wieder zurück wiegend, wobei er immer wieder dieses gefährliche donnernde Brummen ausstieß und mit den Augen rollte, so dass selbst Fandor von seiner Position aus das Weiße darin sehen konnte.
Thorn bewegte sich nicht, es wäre sein sicherer Tod gewesen. Die beiden trennten noch ungefähr fünf Manneslängen, als Fandor anfing seine Flöte zu spielen. Erst leise und zaghaft, dann lauter und sicherer, stand er im Hintergrund und flötete eine Melodie, die er im gleichen Moment erfand, als er sie blies.
Thorns Gesicht, sonst gut durchblutet, war bleich und fleckig wie ein schlecht ausgebackener Mehlfladen, und Schweiß lief ihm in Bächen über die Stirn. Er schluckte schwer. Fandor, ganz in seine Melodie und sein Spiel vertieft, trat vorsichtig auf die beiden zu.
Der Bär war nun stehengeblieben und ließ seinen Blick wandern zwischen Thorn, der eine sichere Beute zu sein schien, und Fandor, der sich ihm Schritt für Schritt näherte.
Fandor hatte später, als er mit seiner Familie am Feuer saß und Thorn mit leuchtenden Augen und glühenden Wangen von seiner Heldentat berichtete, nicht einmal mehr sagen können, was für eine Melodie er denn gespielt hatte, und er wusste auch nicht mehr zu sagen, wie lange er gespielt hatte oder ob die Sonne schien oder es anfing zu regnen oder der Wind zunahm oder dass die Sonne den Rand der Steppe berührte. Teile der Welt um ihn herum standen still und hörten auf zu existieren.
Dafür war ihm sehr bewusst, dass der Hang nach den süßen Blüten von Akazien roch und dass er Hummeln und wilde Bienen hörte, die emsig von Blüte zu Blüte flogen, um den süßen Nektar darin zu trinken.
Er spielte wie im Traum und spielte und spielte, und der Bär fing langsam an sich zu beruhigen. Von einem Moment auf den anderen schien der große Braune das Interesse an Thorn und Fandor zu verlieren, drehte ab und verschwand plötzlich in der Höhle.
Fandors Mund war trocken wie altes Eichenlaub im Frühling, so dass ihm die Flöte an den Lippen kleben blieb, als er aufhörte sie zu spielen. Sein Hals kratzte, und er konnte nicht einmal mehr schlucken. Mit einem Mal hörte er sein Herz rasen, in seinen Ohren rauschte hämmernd das Blut. Ihm wurde schwarz vor Augen, und das letzte, was er sah, waren Thorns weit aufgerissene Augen, als dieser sich langsam umdrehte und den Berg hinab auf ihn zutorkelte, wackelig in den Knien und schweißgebadet.
Aufzeichnungen aus dem Buch der Geschichte von Thorn Jhaerhune von Wolff:
Geschrieben ward der 24. Jul im Jahre 526 von Arloks Herrschaft, als Fandor Ellson mir das Leben vor dem Angriff des größten braunen Bärs rettete, dessen je ein Freier Reiter gewahr wurde. Es war eine Tat, von der noch heute in Liedern berichtet wird, denn Fandor rettete mir allein durch das Spielen seiner Flöte mein junges Leben. Mit eben dieser Flöte, durch die er sich so oft den Spott aller Kinder zugezogen hatte, mit eben dieser Flöte, die er um seinen Hals trug, als er gefunden wurde.
Seit jenem Tag verspottete ihn niemand mehr wegen seiner Art die Flöte zu spielen und seiner Art Wachträume zu haben. Fandor Ellson rettete mein Leben, und wir vollzogen am nächsten Tag den heiligen Blutschwur, der mich fortan an ihn binden würde bis in den Tod. Damals ahnte ich freilich noch nicht, dass der vollzogene Blutschwur nur der Beginn einer Reihe von Abenteuern sein sollte, die uns beide bis an den Rand der Welt bringen würden. Damals nahm alles seinen Anfang.
Fast genau ein Jahr war seitdem vergangen, ein Jahr, in dem Fandor und Thorn langsam aber sicher zu jungen Männern gereift waren. Sie spürten schon seit einiger Zeit eine immer stärker werdende Nervosität in sich aufsteigen, je näher die Sonnwende kam. Sie übten weiter den Kampf mit den Holzschwertern, und Fandor, der sich wirklich alle Mühe gab, fand, dass selbst er endlich Fortschritte machte. Er starb nun höchstens noch zweimal pro Kampfrunde.
Doch die Nervosität erfasste langsam aber sicher alle. Die Frauen der Steppenreiter begannen allmählich mit den Festvorbereitungen für die große Sonnwendfeier, was sich auch darin äußerte, dass sie ihre Männer und die Heranwachsenden mit Aufgaben überhäuften. Es mussten Wild gejagt, Beeren, Wurzeln und Unmengen Holz gesammelt und ein großer Festplatz angelegt werden. Alle halfen mit. Das Wetter war sehr mild für die Jahreszeit, und die anderen Clans der Freien Reiter hatten ihre Kunde geschickt, dass sie alle in der Woche der Sonnwende eintreffen würden. Es versprach ein großartiges Fest zu werden und ein großartiger Sum.
Tief im Süden jedoch, weit hinter den unendlichen Treibsanden, inmitten der toten Berge, begannen gänzlich andere Vorbereitungen auf ein Ereignis, das die nördlichen Welten noch im selben Sum in ihren Festen erschüttern sollte. Gramlodawik von Arlok, der schwarze Herrscher über die Lande jenseits der Berge, richtete seinen Blick gen Norden, und die wenigen, die von ihren Eltern und Alteltern Geschichten über Arlok den Schwarzen gehört hatten, würden bald zu ahnen beginnen, dass diese Erzählungen keineswegs frei erfunden waren, um kleine Kinder zu ängstigen und in ihre Schranken zu weisen. Ein kalter Schauer durchzog das Land, als Arlok der Schreckliche, wie ihn andere Legenden nannten, seinen Hass erbarmungslos auf die nördlichen Welten lenkte. Denn Arlok hatte einen Traum, der den Norden nach Jahrhunderten wieder in seinen Blickpunkt rücken ließ.
Arlok der Schwarze, der Große, der Schreckliche war trotz seiner allüberragenden Herrschaft nervös in letzter Zeit. Er hatte einen bedrohlichen Alptraum gehabt, die Prophezeiung betreffend, die er schon beinahe vergessen hatte, so lange war das her. Und doch wusste er um ihren Inhalt, hatte er sie doch einst selbst geschaut.
Er fasste sich ans Kinn, seine stahlgrauen Augen blickten quer durch den Saal, die lebensgroßen Büsten aus grauem Stein entlang, die auf den Längsseiten des Saals standen, bis zum hinteren Ende des langen Raums, wo eine riesige Landkarte an der Wand hing, die einen Großteil der gesamten Querseite einnahm. Dann weiter die zweite Längsseite entlang, bis sie endlich auf seinem schwarzen Schwert zur Ruhe kamen, das an seiner linken Seite hing.
Hinter ihm brannte ein merkwürdig grün schimmerndes Feuer, das keine Wärme verbreitete, und so lag der lange Raum in Kälte und flackerndem Licht, was ihn unheimlich grünlich leuchten ließ.
Was war das nur für ein seltsamer Traum gewesen? Er hatte mitten in die Augen eines Mönchs geschaut, er hatte ihn sozusagen entdeckt, als dieser sich Gedanken über die Prophezeiung gemacht hatte. Wie konnte das sein? Wo kam dieser Betbruder her? Es gab doch gar keine Kloster mehr.
Jahrhunderte hatte er damit zugebracht, alle Abschriften der Prophezeiung zu suchen und zu vernichten und die zu morden, die von ihr wussten. Er hatte seine Armeen landauf landab geschickt, seine Befehle auszuführen, und sie hatten keinen Stein auf dem anderen gelassen, ihrem Herrn zu Diensten zu sein und seine Wünsche zu befriedigen. Er hatte sie vollkommen unter Kontrolle, durch seine magischen Fähigkeiten und ihre Einschwörung im Feuer des Todes, das manche von ihnen nicht überlebt hatten. Aber was machte das schon?
Donnernd krachte seine Faust auf die Armlehnen des Steinthrons. „M’r’welik, schickt mir M’r‘welik!“, schrie er so laut heraus, dass es in den Mauern des Thronsaals als Echo hin- und hergeworfen wurde. Eine dicke Ader an seinem Hals quoll aus seiner schwarzen