Unter Piraten. Miriam Lanz
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„Guten Tag, Sir!“, sagte Gwyn verlegen und strahlte den Fremden an. Die vergangenen Monate waren so eintönig verlaufen, dass sie alles, was von ihrem Tagesablauf abwich, freudig aufnahm.
„Sag mal, ist das hier, das Anwesen von Charles Steward?“, fragte der Mann.
„Ja, das ist mein Daddy!“, erklärte Gwyn stolz, wobei sie zu dem großen Mann hinauf sah. „Er ist Kapitän, weißt du. Aber er ist nicht da. Daddy ist mit Mami nach …nach…Kington gefahren, glaube ich. Aber Daddy und Mami kommen bald wieder zurück. Das hat mir Nancy gesagt.“
Der Mann sah sie mitfühlend an.
„Wie heißt du denn?“, fragte er schließlich, wobei er sich zu ihr hinunterbeugte.
„Gwyn!“
„Gwyneth, wo bist du?“ Eine rundliche Frau kam aus dem Haus. Als sie den Mann sah, verbeugte sie sich tief.
„Ich bin Commodore Edward Stevens!“, stellte sich der Besucher vor, während er noch immer neben Gwyn kniete.
„Seid Ihr der Vormund dieser jungen Dame?“ Er deutete zu Gwyn.
„Oh nein, Sir. Ich bin nur die Gouvernante. Der Vormund von Miss Steward ist, nach ihren Eltern, der Bruder des Hausherrn, Dr. James Steward. Er ist in Bristol ansässig. Aber, Sir, verzeiht meine Frage, was ist passiert, dass Ihr uns besucht und nach dem Vormund von Miss Steward fragt?“ Nancy klang sehr beunruhigt.
Gwyn sah verständnislos von ihr zu Stevens, der sich wieder aufgerichtet hatte, und wieder zurück.
"Nancy, was ist ein Vormund? Ich kann doch alleine essen!", fragte sie schließlich. Ein kurzes Lächeln huschte über die Lippen ihrer Gouvernante.
"Das erkläre ich dir später, Liebes. Geh´ jetzt in den Garten spielen. Ich werde mich kurz mit Commodore Stevens unterhalten.“ Gwyn sah sie beleidigt an.
„Das ist aber so langweilig“, entgegnete sie, “Mr. Stevens? Sag mir doch bitte, wann kommen Mami und Daddy wieder heim?“ Der Angesprochene beugte sich erneut zu der Dreijährigen hinunter und streichelte ihr über die Haare.
„Ich werde mich jetzt ganz kurz mit deiner Gouvernante unterhalten und dann komme ich zu dir, einverstanden?“ Gwyn nickte übermütig und rannte zurück in den Garten.
Die Vorfreude endlich wieder mit jemandem anderen zu spielen als mit Nancy, versüßte Gwyn das lange Warten. Die Neugier brannte in ihr. Wie gerne sie doch wüsste, was der Mann mit Nancy zu besprechen hatte. Aber lauschen war ungezogen, hatte ihr ihre Mami einmal erklärt.
„Pflückst du Blumen?“ Stevens stand hinter ihr. Gwyn strahlte ihn an.
„Die hab ich für dich gepflückt“, erklärte sie und streckte dem Commodore die Blumen entgegen. „Oh, vielen Dank, Gwyneth“
„Bitte nenn mich Gwyn! Ich mag Gwyneth nicht so gerne“, erklärte das kleine Mädchen. Sie bemühte sich so ordentlich wie möglich zu sprechen.
„In Ordnung“, Stevens lächelte. „Was hältst du davon, mit mir eine kleine Reise zu machen? Nancy fährt natürlich auch mit!“, fragte er plötzlich.
„Aber Mami und Daddy kommen bald wieder und dann sind sie da und ich bin weg.“
Wieder hatte der Mann diesen mitfühlenden Gesichtsausdruck.
“Deine Mami und dein Daddy werden noch lange, lange weg sein, glaube mir, mein Kind!“
Gwyn sah ihn ungläubig an. “Aber Nancy hat gesagt, dass sie bald wieder heim kommen. Und Daddy hat mir versprochen, dass er mir eine Überraschung mitbringt.“
„Weißt du, Gwyn, dein Daddy und deine Mami sind aufgehalten worden. Du weißt doch, dass dein Daddy ein sehr, sehr mutiger Mann ist und deshalb hat er einen besonderen Auftrag bekommen. Du wirst deine Eltern sehr lange Zeit nicht mehr sehen.“ Gwyn sah ihn enttäuscht an.
„Dann hat Nancy ja gelogen! Und lügen tut man nicht, dass hat Mami mir gesagt.“
„Nancy hat nicht gelogen, sie wusste es nicht. Möchtest du jetzt mit mir kommen?“ Gwyn nickte. „Wohin fahren wir, Mr. Stevens?“
„Nach Bristol zu deinem Onkel! Warst du schon einmal in Bristol?“ Gwyn schüttelte den Kopf.
Vier Tage später kamen Gwyn, Commodore Stevens und Nancy in Bristol an. Obgleich sich die Dunkelheit der Nacht über die Hafenstadt gelegt hatte und man nur noch auf die Soldaten traf, die über die Straßen partroulierten, war das Mädchen noch immer hellwach.
Sie saß auf Nancys Schoß und blickte auf die dunklen Straßen.
Endlich hielt die Kutsche an. Ein riesiges, schwarzes Gebäude erhob sich gegen die Nacht.
Kein einziges Licht schien durch die Fenster. Stevens stieg aus. Gwyn sah, dass er anklopfte. Ein Hausmädchen öffnete die Tür und Stevens wechselte einige Worte mit ihr, ehe er zurückkam.
„Folgt mir!“, sagte er und half Nancy aus der Kutsche. Gwyn klammerte sich an Nancys Hand und betrat das gespenstisch stille Haus.
Der Commodore wurde von dem Hausmädchen eine große Treppe hinauf geführt.
„Nancy? Was machen wir hier? Ich will nach Hause!" Gwyn drängte sich ängstlich an ihre Gouvernante.
„Mach dir keine Sorgen, Liebes!“ Das Hausmädchen kam mit einer kleinen Lampe in der Hand zurück. Als sie Gwyn sah, lächelte sie.
„Hast du Hunger, Schatz?“ Gwyn nickte langsam, wobei sie näher an Nancy trat.
„Dann komm mit mir in die Küche. Da werden wir bestimmt noch etwas für dich finden!“
Gerade als Gwyn die Gemüsesuppe ausgelöffelt hatte, betrat Stevens die Küche. Das Hausmädchen und Nancy sprangen auf und verbeugten sich.
„Gwyn, ich möchte dir deinen Onkel vorstellen!“ Der Commodore nahm das Mädchen an die Hand und führte sie die große Treppe hinauf und den Gang entlang in die Bibliothek.
Der große Raum wurde von einem Kaminfeuer erhellt. Ein Mann saß in einem Sessel. Als Gwyn mit Stevens das Zimmer betrat, sah sie der Mann aus melancholischen Augen an und erhob sich langsam.
‚Der sieht aber traurig aus’
Der Commodore beugte sich zu dem Mädchen herunter.
„Das ist dein Onkel, Gwyn“, erklärte er. Gwyn musterte den Mann, der vor ihr stand, eindringlich; Stevens Hand ließ sie nicht los.
„Du wirst von jetzt an bei ihm leben“, fuhr der Commodore fort. Gwyn sah ihn ungläubig an.
“Warum? Ich lebe bei Mami und Daddy“, erklärte sie entschieden.
„Gwyneth, du wirst deine Eltern nicht wieder sehen! Sie werden nicht mehr zurückkommen. Sie sind an einen Ort, von dem es keine Wiederkehr gibt“, sagte ihr Onkel. Sein Gesicht war vollkommen emotionslos und seine Stimme klang kalt. Gwyn sah ihn verständnislos an. Nancy und das Hausmädchen waren in das Zimmer gekommen.