Die Großen und die Kleinen. Martin Renold
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Mein Pate hatte eine weiche, wohlklingende Stimme. Nie habe ich ein böses, lautes Wort von ihm gehört. Er sprach nie viel. Sein Gesicht, seine Augen strahlten Güte aus.
Wenn wir bei der Station auf der anderen Seite des Staatswaldes ausstiegen, der Zug mit der vorgespannten Dampflokomotive wieder abgefahren war und wir die Gleise überquert und die erste kleine Steigung im Wald hinter uns gelassen hatten, stand mein Pate meist in der Biegung am Rande der Straße, wo er auf uns wartete und uns die leichten Taschen abnahm. Die schweren Koffer holte nach Feierabend sein Sohn mit dem Auto am Bahnhof ab.
Ich weiß nicht, weshalb er nur selten die wenigen Schritte bis zum Bahnhof herunterkam, sondern sich hinter den Stämmen beinahe zu verstecken schien. Vielleicht wollte er uns überraschen. So, stellte ich mir vor, hatte er, der große Bruder, früher auf seine kleine Schwester, meine Mutter, gewartet, wenn sie als Mädchen mit dem Leiterwagen Gemüse und Beeren in die Konservenfabrik nach Lenzburg bringen musste. Das war eine bescheidene Nebeneinnahme für die junge Witwe, die in der Schreinerei ihres früh verstorbenen Mannes zum Rechten sehen musste und aus ihrem kleinen Kolonialwarenladen, in dem auch die Dorfbewohner einkauften, nicht nur die sieben Kinder, sondern auch noch eine Handvoll Schneidergesellen verköstigte.
Später hat mein Pate auf einem Stück Land außerhalb des Dorfes einen kleinen Stall gebaut, der gerade Platz für eine Kuh und allenfalls noch ein Kalb bot. Zuerst stand nur die „Brune“ darin. Manchmal spannte mein Patenonkel die Brune vor einen Heuwagen. Und dann durfte ich aufsitzen und mitfahren, durch das Dorf und auf der anderen Seite hinaus auf das „Feld“, wo er ebenfalls noch ein größeres Stück Wiesland mit Kirsch- und Apfelbäumen besaß. Dann rechten wir das Heu oder Emd zusammen, luden es auf und fuhren zum Stall zurück, wo mein Pate es mit der Heugabel schwungvoll in den kleinen Heuboden über dem Stall hinaufwarf. Besonders stolz waren Arthur, ein Pflegesohn, der für alle wie ein Sohn war, und ich, wenn wir allein mit der Brune und dem Wagen zum Grasen fahren durften.
Im Herbst gingen wir die Äpfel pflücken und auflesen. Einer der Bäume trug leuchtend gelbe Äpfelchen. Gelb wie mein Schaukelpferd und die Eisenbahn. Usteräpfel. Sie waren meine Lieblingssorte, weil sie so süß waren. Kamen wir im Herbst nicht in die Ferien, dann schicke mir der Pate immer eine große Schachtel voll in die Stadt. Auch als gekochte Schnitze oder gedörrt schmeckten sie wundervoll. In meiner Erinnerung gehören diese Apfel und mein Pate untrennbar zusammen.
Hinter der Schreinerei stand eine große Mostpresse. Wir hielten unsere Trinkgläser unter die Abflussröhre und tranken den trübgoldenen Most frisch ab der Trotte. Nur wenn die Bauern des Dorfes kamen, um ihr Mostobst zu pressen, durften wir nicht zugreifen. Aber im Speicher über der Werkstatt standen genug Korbflaschen voll süßen Mostes, und Tante Frieda stellte immer wieder volle Krüge auf den Tisch.
Noch später, als die Brune bereits gestorben oder den Weg zum Metzger gegangen war, baute mein Pate einen großen Stall gleich neben dem alten, kleinen, der nun noch viel keiner schien. Es war, als suche er unter dem riesigen Vordach des neuen Stalls Schutz und Halt.
Das Schreinern überließ mein Pate nun ganz seinem Sohn. Neben dem Stall errichtete er einen Futtersilo. Abends, wenn er nach Hause kam und sich mit seinen vom Silofutter säuerlich stinkenden Kleidern an den Tisch setzen wolle, schickte ihn Tante Frieda, die sonst die Liebe in Person war, ins Bad und ließ ihn nicht eher an den Esstisch, als bis er die übelriechenden Kleider ausgezogen hatte und gewaschen wieder herunterkam.
Dies war in all den Jahren jeweils der einzige Augenblick, in dem ich die beiden einen Ton sprechen hörte, der zwar kein Streit war, aber doch eine leise Uneinigkeit ausdrückte. Mein Pate versuchte offenbar immer wieder, sich am Küchentisch häuslich niederzulassen, um ein Glas Most zu trinken, sich ein Stück von dem selbstgebackenen Brot abzuschneiden und zumindest die Titel oder Schlagzeilen im „Echo vom Maiengrün“ zu lesen, ehe er sich ins obere Stockwerk ins Bad bequemte.
Ich muss zugeben, dass er einen saumäßigen Gestank verbreitete. Saumäßig ist genau das richtige Wort; denn das Silofutter stank tatsächlich wie jene Schweinemästerei, die etwas außerhalb unserer Stadt lag und an der wir oft auf unseren Spaziergängen mit den Eltern vorüberkamen. Mir tat er leid, wenn er dann etwas mürrisch von der Zeitung und vom Most ließ und folgsam die steile, knarrende Treppe hochstieg.
Mein Onkel hat seine Frau, die Tante Frieda, lange überlebt. Er wurde weit über neunzig Jahre alt. Meine Mutter, selber inzwischen Witfrau geworden, besuchte ihn oft für mehrere Tage oder Wochen, um seine Schwiegertochter zu entlasten, die neben ihrem eigenen Haushalt mit den Kindern und den Arbeitern der Schreinerei nun auch noch meinem Paten beim Ankleiden und Ausziehen helfen musste.
Noch in seinem hohen Alter war er ein großer, stattlicher Mann, ein Charakterkopf mit dichtem, wild wucherndem, schlohweißem Haar.
In der Nacht, als er starb, schlief sein Sohn im Bett neben ihm. Mein Cousin hatte gespürt, dass der mächtige Körper seines Vaters so schwach geworden war, dass er den Morgen kaum mehr erleben würde. Mitten in der Nacht erwachte er, hörte neben sich das gleichmäßige Atmen, das auf einmal aufhörte. Als er die Lampe anzündete, war das Licht eines friedvollen Lebens erloschen. Leise, wie er gelebt hatte, war der Mann, der für mich stets der größte war, aus diesem Leben hinübergegangen in die andere Welt.
Tante Frieda
Sie war die kleinste meiner Tanten. Aber sie hatte eine große Seele und ein großes Herz. Sie war die Frau meines Patenonkels. Neben seiner großen Gestalt wirkte sie noch kleiner, als sie an sich schon war. Sie hatte eine mollige, mütterliche Figur. Es schien fast unglaublich, dass ihrem Leib ein Sohn entsprossen war, der einmal die Größe seines Vaters überbieten würde.
Die Stimme von Tante Frieda war melodiös und süß wie Honig, aber nie süßlich. Sie klang bestimmt und ehrlich. Ich habe Tante Frieda selten ohne Arbeit gesehen. Vielleicht abends, wenn sie auf der Kaust, der Ofenbank, in der Stube saß und im „Echo vom Maiengrün“, im „Gelben Heftli“ oder im Eulenspiegelkalender las. Arbeit gab es ja genug. Sie hatte für eine große Familie zu sorgen. Nebst Gatte und Sohn war da noch ein Pflegekind, Arthur. Mein Cousin war zwölf Jahre älter als ich. Arthur, den sie als kleinen Jungen angenommen hatten und wie ein eigenes Kind liebten, war gleich alt wie ich. Zum Mittagessen kamen immer auch ein paar Arbeiter aus der Werkstatt herauf. Im Nachbarhaus, das durch die angebaute Werkstatt mit dem neueren Haus meines Paten verbunden war, lebte noch die Großmutter. Als diese gestorben war, versorgte Tante Frieda auch noch den Kolonialwarenladen, der nicht größer als ein kleines Zimmer und ursprünglich wohl auch nichts anderes als ein Schlafzimmer gewesen war. Mehrmals am Tag, wenn jemand an der Glocke zog, musste Tante Frieda von der Arbeit in der Küche oder im Garten weglaufen und hinüber, die steile, ausgetretene Treppe hoch, durch den dunklen Korridor. Dann schloss sie die Tür zum Laden auf mit dem schweren Schlüssel, den sie immer in der Schürzentasche bei sich trug.
Einmal im Jahr wurde ein Schwein gekauft und auf dem Hof gemetzgt. Dann schickte sie uns in die Stadt ein paar Blut- und Leberwürste, die mein Vater so gerne aß und in die er, zum Ärger meiner Mutter, aber zur Belustigung von meiner Schwester und mir voll Freude und Lust mit den spitzen Zinken der Gabel stach, so dass das flüssige Fett in hohem Bogen wie ein Springbrunnen herausspritzte.
Vor dem Haus und dem Hof stand das Wasch- und Backhäuschen, wo Tante Frieda jede Woche einmal große Wäsche machte und das Brot für die ganze Familie und die ganze Woche buk. Auch die Kuchen, je nach Jahreszeit Kirschen-, Apfel- oder Rhabarberkuchen und jedes Mal auch Käse-, Spinat und Kartoffelkuchen mit Speckwürfeln drauf gehörten