Die Großen und die Kleinen. Martin Renold
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Und dann kamen immer wieder die vielen Besuche und Feriengäste. Wir waren oft nicht die einzigen. Einmal weilten zwei Cousinen meiner Mutter mit uns im Haus. Längere Zeit lebte auch ein Freund meines Cousins hier, und die Lehrerin des Dorfes hatte sich eingemietet und gehörte gleichfalls zur Familie. Oder dann traf man auch die Verwandten aus Rom oder gar Amerika, für die jederzeit ein eigenes Zimmer bereit und offen stand, in das sie oft unangemeldet sogar mitten in der Nacht Einzug hielten. Und als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, tauchten sie dann am Morgen zum Frühstück auf. Trotzdem gab es nie Platznot. Wer im Haus meines Paten keinen Unterschupf fand, wurde drüben bei der Großmutter einquartiert.
Es muss allerdings gesagt sein: Ohne eine Hilfe im Haushalt wäre dies alles nicht möglich gewesen. Wer hätte geschaut, dass die Milch oder die Suppe nicht überquoll und die Kartoffeln nicht anbrieten, wenn Tante Frieda durch das Glockengebimmel in den Laden hinübergerufen wurde? Wer hätte all die Schuhe und Kleider gereinigt, die Wäsche geglättet? Wer die Küchenkräuter aus dem Garten geholt?
Die Hilfe – ich erinnere mich an sie, seit ich gehen, reden und denken kann –, das war Lydia. Sie war schon immer da. Sie besaß kein Alter. Für mich war sie all meine Jugendjahre hindurch immer gleich alt oder gleich jung. Wir Kinder fürchteten sie. Sie war eine große, stämmige Frau. Wenn sie ihre Wutausbrüche hatte, stellten wir Kinder uns vor, dass sie ohne weiteres in der Lage gewesen wäre, Tante Frieda in die Höhe zu stemmen und sie zum Fenster hinaus oder in eine Ecke der Küche zu werfen. Lydia war stumm. Sie hatte eine krächzende Stimme, mit der sie nur ein paar Urlaute hervorbrachte. Aber sie war eine ausgezeichnete Köchin. Wenn wir sie in der Küche antrafen, durch die uns der Weg in die Schlafzimmer im oberen Stockwerk führte, schlichen wir möglichst schnell und unauffällig an ihr vorbei. Wenn sie mit dem scharfen Küchenmesser in der Hand über den Hof lief, um im Garten Petersilie oder Schnittlauch abzuschneiden, suchten wir das Weite. Nicht ohne Grund. Denn Lydia war nicht selten eine Furie. Wir hörten auf dem Hof ihr Geschrei, das aus der Küche durchs offene Fenster zu uns herunterdrang, wenn sie auf Tante Frieda losschimpfte. Oder dann schlug sie das hölzerne Fleischbrett auf die Tischplatte, dass es nur so knallte. Einmal sah ich sie am Küchentisch sitzen, den Kopf auf die Tischplatte schlagend und herzzerreißende Jammertöne von sich gebend. Ich weiß nicht, ob sie aus Wut oder Trauer weinte. Ein andermal sah ich, wie sie meine Tante zu irgendetwas erpressen wollte, indem sie drohte, sich die Finger mit dem Fleischermesser abzuhacken.
Ich verstand nie, was sie wollte. Die lauten Vokale, die sie ausstieß, formten sich nie zu Worten. Sie war für mich wie ein wildes, unberechenbares Tier, eine Löwin oder ein Tiger, der einen plötzlich anspringen und zerfleischen konnte.
Doch Tante Frieda war ein Engel. Sie besaß eine wahre Engelsgeduld. Sie war die Einzige, die Lydia verstand. Wenn Lydia mit dem blanken Fleischmesser auf Tante Frieda losging, bewahrte sie die Ruhe. Wie ein Mensch, der einem fremden, kläffenden Hund entgegentritt, ging sie auf Lydia zu, redete mit ruhiger Stimme auf sie ein und nahm ihr das Messer aus der Hand.
„Geh, leg dich hin!“, sagte sie dann. „Ruh dich aus! Schlaf ein wenig.“
Und Lydia ging in ihre Kammer, murrend zwar, aber doch folgsam. Und Tante Frieda machte die Arbeit in der Küche oder im Garten allein, bis Lydia ihren Tobsuchtsanfall ausgeschlafen hatte.
Einmal, es war während des Zweiten Weltkriegs, waren die „Römer“ gekommen. Diesmal wohnten sie allerdings im Nachbardorf bei Verwandten. Doch Margherita, die kleine Cousine meines Vetters, war zum Mittagessen gekommen und blieb bis in den Nachmittag hinein. Ich war Gymnasiast. Margherita war ein zierliches, fröhliches Mädchen. Wir spielten miteinander und neckten uns. Und ich verliebte mich bis über beide Ohren in das hübsche Geschöpf, das mir auch bei zwei weiteren Besuchen schöne Augen machte.
Ein paar Tage später reisten sie ab, zurück nach Italien, das gerade in diesen Tagen dem ehemals befreundeten Deutschland den Krieg erklärte.
Auch wenn ich glaubte, mir nichts anmerken zu lassen, spürte ich doch, dass Tante Frieda meine Liebe erkannt hatte. Sei schwieg, aber ihre Augen verrieten, dass ich meine Gefühle vor ihr nicht verbergen konnte.
Bei meinen späteren Aufenthalten in Brunegg wagte ich nie, nach Margherita zu fragen. Aber Tante Frieda verstand es immer, mich indirekt, in einem Gespräch mit meiner Mutter, dem ich zuhörte, oder am Mittagstisch über das Wenige, das sie aus dem besetzten Rom erfahren hatte, zu informieren. Und ich wusste, dass sie es meinetwegen erzählte und so, ohne sich direkt an mich zu wenden und mein Geheimnis zu verraten, meine Neugier stillte.
Als nach dem Krieg mein Cousin heiratete, brachte sie Margherita und mich für diesen Tag als Paar zusammen. Und später, als Margherita einen andern geheiratet hatte, erfuhr ich stets auf die gleiche rücksichtsvolle Weise vom Ergehen der kleinen Römerin, der über Jahre meine geheime, ungestillte und unerwiderte Liebe gegolten hatte.
Ich erinnere mich nicht mehr, woran Tante Frieda gestorben ist. Ihr Gedächtnis nahm ab. Sie wusste nicht mehr, was sie tat. Mein Patenonkel musste sie oft mitten in der Nacht ins Schlafzimmer zurückholen, wenn sie, nur mit dem Nachthemd bekleidet, aus Großmutters Haus, das sie nun bewohnten, ins andere Haus hinüber- oder in den Garten hinuntergegangen war.
Seit sie nicht mehr lebt, ist das Haus leer geworden, und seit ich kein Kind mehr bin, komme ich nur noch selten in das Dorf, und manchmal auch nur auf den Friedhof, wo auch meine Eltern begraben sind. Dann gehe ich auch zum Grab meines Paten und von Tante Frieda. Aber ich weiß, dass ich die Toten hier nicht finden kann. Es gibt Stunden, wenn ich allein zu Hause sitze, da sind sie mir alle viel näher, und eines Tages, so lange kann es auch nicht mehr dauern, denn auch ich bin inzwischen alt geworden, werden wir uns ganz nahe sein.
Der Schwachsinnige
Wir sind ihm im Gnadental begegnet. Das Gnadental ist ein Pflegeheim.
Es war ein warmer Sommersonntagnachmittag. Ein befreundetes Ehepaar hatte uns im Auto mitgenommen.
Wir hatten das Ehepaar als Nachbarn kennen gelernt. Sie hatten einen Sohn, der nur wenig jünger war als Adrian, unser Junge. Durch die beiden Kinder waren wir uns näher gekommen. Adrian durfte mit ihnen in die Ferien, damit ihr Sohn nicht allein wäre. Einer Einladung folgte die andere. Langsam erfuhren wir, dass Maurice nicht das einzige Kind war. Es gab da irgendwo noch einen älteren Sohn, einen rechten Tunichtgut, der in den teuersten Hotels wohnte, hochstapelte, ohne die Hotelrechnungen zu begleichen, buchstäblich bei Nacht und Nebel verschwand und, weil der Vater stets zur Kasse gebeten wurde, dessen Vermögen langsam, aber sicher zum Schmelzen und Zerrinnen brachte.
Es versteht sich von selbst, dass unsere Freunde auch uns gegenüber nicht gerne davon sprachen und uns die Existenz dieses ungeratenen Sohnes lange verschwiegen. Doch tauchte sein Name im Gespräch dann und wann zufälligerweise oder vielleicht doch ein bisschen gewollt auf, als suchten sie unsere Teilnahme an ihrem Schicksal. Bruchstückhaft erfuhren so meine Frau und ich allmählich ihre ganze Familiengeschichte, die man ohne Übertreibung eine Tragödie nennen kann.
Da hatte es nämlich auch noch zwei Töchter gegeben. Das ältere der beiden Mädchen war mit drei Jahren an einer heimtückischen Krankheit gestorben, das zweite lebte bis ins dritte Jahr normal und gedieh zur Freude der Eltern. Doch dann wurde es von der gleichen Krankheit befallen, war gelähmt und