Die Großen und die Kleinen. Martin Renold

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Die Großen und die Kleinen - Martin Renold

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als der ältere Junge zur Welt kam und heranwuchs und dann schließlich noch der jüngere dazukam, überstieg die Pflege die Kraft der Mutter, und das Mädchen wurde ins Gnadental gegeben.

      Kein Wunder, dass nach diesen Schicksalsschlägen die beiden verbliebenen Kinder gehätschelt und verwöhnt wurden, bis schließlich der ältere Sohn ganz aus dem Gleis geworfen wurde und sich immer wieder vor der Polizei in Sicherheit bringen musste, wobei ihm die Mutter nach Kräften half, was ihn aber doch nicht vor dem Gefängnis bewahren konnte, während der Vater ihm am liebsten den Tod gewünscht hätte.

      Die Mutter, nachdem sie auf diese Weise drei Kinder verloren hatte, überschüttete nun den einzig ihr noch verbliebenen Sohn mit ihrer grenzenlosen, blinden Liebe, ohne zu bemerken, dass er auf eine ähnliche schiefe Bahn geriet wie sein Bruder.

      Unterdessen war das Mädchen im Gnadental über zwanzig Jahre alt geworden. Ab und zu fuhren die Eltern dorthin und kehrten jedes Mal sichtlich bedrückt und betrübt zurück.

      Meine Frau hatte einmal den Wunsch geäußert, mit ihnen das Kind besuchen zu dürfen. Aber die Eltern wollten nichts davon wissen. Der Anblick des Kindes würde uns zu sehr erschrecken. Doch eines Tages fragten sie uns doch, ob wir mitfahren wollten. Und wir sagten zu. Wir sollten uns jedoch auf das Schlimmste gefasst machen.

      Das Pflegeheim liegt abseits. Wir erreichten es nach einer Fahrt von einer guten halben Stunde.

      Nachdem unser Freund das Auto geparkt hatte, schritten wir unter dem hohen Torbogen hindurch und betraten das ausgedehnte Areal.

      Die Eltern des Kindes meldeten sich im Haus an, während meine Frau und ich auf einer Bank im Park warteten.

      Nach einer Weile kamen die Eltern zurück und setzten sich zu uns. Das Kind werde noch zurechtgemacht und dann zu uns herausgebracht.

      Nach einige Zeit näherte sich uns eine Schwester, die einen schwarzen, altmodischen Kinderwagen vor sich her schob und damit auf uns zu steuerte.

      Das war wohl nicht die Schwester, die meine Frau und ich erwarteten. Doch sie stellte den Kinderwagen vor uns hin und verließ uns wieder. Sie werde das Kind in einer halben Stunde wieder holen.

      Noch nie habe ich den Ausdruck „ein Häuflein Elend“ so bildhaft anschaulich empfunden wie in diesem Augenblick. Da lag ein kleiner, spindeldürrer Körper in den Kissen, zusammengefaltet wie ein zugeklapptes Taschenmesser. Die Beinchen, fast nur noch Haut und Knochen neben dem Oberkörper, die Füßchen auf der Höhe des Kopfes, aus dem beinahe wie aus einem Totenschädel zwei große, leblose Augen hervorstarrten. Um den Mund blitzte ein leichtes, kaum bemerkbares Zucken auf.

      Wir ließen der Mutter den trügerischen Glauben, dass das Kind sie wiedererkannt und ihr zugelächelt hätte.

      Und dann kam er, der schwachsinnige Junge. Oder besser gesagt, der schwachsinnige junge Mann. Wie es bei solchen Menschen oft ist, konnten wir sein Alter kaum schätzen. Er mochte siebzehn oder auch fünfundzwanzig Jahre alt sein.

      Mit einem strahlenden Lächeln kam er geradewegs auf uns zu. Sein Gesicht leuchtete, als wäre Weihnachten.

      Er kannte offenbar unsere Freunde, und sie kannten ihn.

      „Das ist meine Freundin“, lallte er kaum verständlich. Und er neigte sich über den Kinderwagen und streichelte das leblose Gesicht mit seiner klobigen und doch so zarten Hand.

      „Du, du“, sagte er immer wieder zu dem Mädchen, nicht so, wie man zu einem Kleinkind spricht, sondern zu einer Geliebten, und er nannte immer wieder den Namen des Mädchens mit einer solchen Zärtlichkeit in seiner Stimme, dass man das Gebrechen der beiden vergaß.

      Dann bat er die Eltern, das Mädchen in seinem Wagen ein wenig durch den Park spazieren fahren zu dürfen.

      „Ich mach das jeden Tag, wenn die Sonne scheint“, versuchte er uns zu erklären.

      Und dann ging er, während wir vier auf der Bank im Schatten zweier Pappeln sitzen blieben. Wir sahen ihm nach. Trotz seines unregelmäßig hüpfenden Ganges schien er den Wagen auf seinen hohen, schmalen Rädern behutsam vor sich her zu schieben. Hinter Sträuchern und Blumen entschwand er unseren Blicken.

      Nach einer geraumen Weile tauchte er von der anderen Seite wieder auf. Zärtlich, wie er das Mädchen begrüßt hatte, verabschiedete er sich wieder von ihm. Als er von uns ging, glaubte ich, den glücklichsten Menschen der Welt gesehen zu haben.

      „Weißt du“, sagte ich abends im Bett zu meiner Frau, „zuerst habe ich mich gefragt, warum Gott es zulässt, dass eine solche Kreatur wie dieses Mädchen mehr als zwanzig Jahre lang in diesem verkrüppelten und geistlos apathischen Zustand leben muss. Aber nachdem ich diesen sogenannt Schwachsinnigen gesehen habe, glaube ich, auch dahinter einen Sinn erkannt zu haben. Vielleicht braucht jeder Mensch, der noch einigermaßen bei Sinnen ist wie dieser Junge, einen anderen, dem es noch viel schlechter geht, um sein eigenes elendes Leben ertragen zu können. Wie oft messen wir uns selber an anderen, die schwächer sind, um uns glücklich zu schätzen. Wie viel mehr braucht ein solch armer Mensch einen noch ärmeren, dem auch er noch helfen und ihm etwas Gutes tun, ihn sogar lieben kann und der ihm das Gefühl gibt, nicht nutzlos zu sein.

      Nur dieses Mädchen, das auf der untersten Stufe des Elends dahinvegetiert, hat keinen Elenderen mehr nötig. Es braucht nur noch die Zärtlichkeit und Liebe eines andern Menschen, und sei es auch nur die eines Schwachsinnigen, den es, ohne sein Wissen und Zutun zu einem glücklichen Menschen machen kann.“

      Die beiden Blinden

      Wenn man in St. Gallen an der Kathedrale vorbei und über den Gallusplatz geht, gelangt man nach wenigen Schritten zu der Stelle, wo die Steinach durch die Schlucht herabstürzt und wo dem irischen Mönch Gallus im Jahre 612 ein Bär begegnete, der ihm das Holz herbeitrug, damit er dort seine Zelle bauen konnte.

      Von da fährt das Mühleggbähnchen in einem Tunnel steil hinauf nach St. Georgen. Früher, ehe es mit Elektrizität angetrieben wurde, waren es noch zwei Kabinen. Die eine stand oben, die andere unten. Beide waren durch ein Drahtseil miteinander verbunden.

      Der Schaffner des unteren Wagens meldete durch ein Telefon nach oben, wie viele Passagiere begehrten, hinaufbefördert zu werden. Und der Schaffner des oben stehenden Wagens ließ dementsprechend eine gewisse Menge Steinachwasser in den hohlen Boden der Kabine einfließen. Ein Klingelzeichen von oben deutete unten an, dass genügend Wasser eingefüllt und die Zeit der Abfahrt gekommen sei. Oben wurden die Bremsen gelöst, und beide Kabinen setzten sich in Bewegung. Die obere Kabine zog durch das Gewicht der Passagiere und des Wassers die untere nach oben über eine Distanz von kaum mehr als dreihundert Meter und eine Höhendifferenz von siebzig Metern.

      Die Fahrt dauerte wenige Minuten. Unten angekommen, wurde eine Klappe im Boden geöffnet, und das Wasser rauschte zurück in das Bachbett, das gleich darauf unter der Straße verschwand und erst weit weg in einem Außenquartier wieder ans Tageslicht treten durfte.

      Ich kam von der anderen Seite hinter der alten Klostermauer herauf, als ich vom Gallusplatz her zwei Blinde auf die Talstation des Drahtseilbähnchens zustreben sah. Die weißen Stöcke, die gelben Armbinden, der unsicher Tritt auf die Stufen zum Eingang, den sie Hand in Hand durchschritten, wiesen sie als Sehunfähige aus.

      Langsam tasteten sie sich neben der Kabine über die schrägen, langgezogenen Stufen, an deren Kanten die Stockspitzen klopfend stießen, bis zur obersten der vier Schiebetüren, die offen standen und den Eingang frei gaben zu je zwei sich gegenüberstehenden

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