Die Großen und die Kleinen. Martin Renold
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Ich erinnere mich an die ersten Stunden bei Fräulein Nüesch, als wären seither erst wenige Jahre und nicht über fünf Jahrzehnte verstrichen. Ich war damals in der zweiten Klasse des Gymnasiums. In der ersten Klasse hatte unser Fremdsprachenunterricht nur dem Latein gegolten, das später die Grundlage für die andern Sprachen bilden sollte. Jetzt kam Französisch hinzu. Natürlich hatte ich wie alle meine Kameraden schon vorher viel über die neue Lehrerin gehört. Sie galt als streng. In den Pausen war ich oft in den Gängen ihrer gewichtigen und beeindruckenden Gestalt begegnet. Wie ich nun zum ersten Mal in ihrem Klassenzimmer saß, flößte sie mir nicht nur Respekt, sondern auch eine nicht gerade geringe Portion Angst ein. Ich war schon kein guter Lateinschüler, und da meine Mutter überhaupt keine Fremdsprache gelernt hatte und mein Vater von der Volksschule her nur noch einige Brocken Französisch behalten hatte, brachte ich, der ich als Einziger in der Klasse aus vergleichsweise ärmlichen Verhältnissen stammte, keine Vorbildung von zu Hause mit und konnte demzufolge auch auf keine elterliche Hilfe zählen. Ich fühlte mich ganz auf mich gestellt. Meine Ängstlichkeit bezog sich also nicht nur auf die Person, sondern auch auf die Fremdsprache, in die sie uns einführen sollte. Sie tat dies in der ersten Woche, indem sie uns die phonetische Schrift beibrachte.
In der ersten Stunde beauftragte sie uns, in der Papeterie an der Ecke neben der Schule ein Konzeptheft zu kaufen, was bei ihrer zischenden Aussprache in unseren Ohren wie Konzertheft tönte, von dem wir keine Ahnung hatten, was dieses musikalische Ding mit unseren im Französischunterricht zu tun haben sollte. Auf unsere Nachfrage hin wiederholte sie das Wort mehrmals, laut und deutlich, wobei wir zum ersten Mal mit ihrer pflutschigen Aussprach konfrontiert wurden. Unwirsch erklärte sie dann, es handle sich um ein Oktavheft, womit wir ebenso wenig anfangen konnten. Schließlich wurde es dann aber doch auch dem Letzten klar, dass wir ein kleines liniertes Heft mit einem roten senkrechten Strich in der Mitte brauchten, das uns als „Vocabulair“ dienen sollte. Damit ausgerüstet, erschienen wir in der zweiten Stunde und schrieben dann von der Wandtafel die Wörter in der Lautschrift in das Konzeptheft ab. So ging das auch in den übrigen zwei Französischstunden dieser Woche weiter.
Für die erste Stunde der zweiten Woche hatten wir die Aufgabe erhalten, alle notierten Wörter auswendig zu lernen, soweit dies nicht schon in der ersten Woche geschehen war.
Der Montag fing für mich schlecht an. Bereits in der ersten Stunde saßen wir bei der Pflutsch. Die Lehrerin rief mich als Ersten auf. Ich sollte nach vorne an die Tafel gehen. Ich hatte ein gutes Gefühl, denn ich hatte über das Wochenende gebüffelt. Obwohl ich auf das Abfragen der Wörter durch meine Mutter verzichten musste, hatte ich alles intus. Ich sollte als Erstes das französische Wort für Bohne an die Tafel schreiben. Glücklich, mein Wissen anbringen zu können, schrieb ich, wie ich es gelernt hatte, ari‘ko an die Tafel und betrachtete stolz mein Werk, in der Gewissheit, dass ich keinen Fehler gemacht hatte.
Doch unter der Gewalt der kreischenden Stimme meiner Lehrerin fuhr ich erschrocken zusammen.
„Hast du nichts kapiert?“, fuhr sie mich an. „Ich hab verlangt, dass ihr die Wörter in der normalen Schreibweise lernt. Jetzt ist es vorbei mit der phonetischen Schrift. Na, schreib’s nun richtig an die Tafel.“
Ich zuckte die Achseln und stand wie der Esel am Berg, hilflos mit der Kreide in der Hand und hatte keine Ahnung, wie ich das Wort haricot schreiben sollte.
Sie schubste mich unwirsch von der Tafel weg, und ich ging zerknirscht und beschämt an meinen Platz zurück. Ich war offenbar der Einzige, der nicht im Bilde war.
Aber es kam noch schlimmer. Die Nasallaute der französischen Sprache waren für mich etwas vollkommen Neues. Fremdwörter wie Saison oder Chance waren daheim bisher immer wie Säsong und Schanxe ausgesprochen worden. Als ich nun vor der Klasse von zehn bis zwanzig zählen sollte, klang mein quinze zum Verwechseln ähnlich wie Käs. Und mindestens fünfzehnmal musste ich meiner Lehrerin das für mich unaussprechliche Wort nachsagen, das auch nach dem letzten Versuch immer noch an Käse erinnerte.
Ich sollte zu Hause üben, trug mir die Lehrerin auf, und um meine Fortschritte zu prüfen, musste ich in jeder Stunde das Wort quinze vorsagen. Ich hatte daheim im stillen Kämmerlein geübt und hatte mir dabei sogar die Nase zugehalten. Es blieb beim Käs. Ich weiß nicht mehr, wie es mir gelang, die verschiedenen Nasallaute schließlich doch richtig zu artikulieren. Auf jeden Fall war es eines Tages so weit. Die weitere Blamage blieb mir erspart, doch glaube ich, in den Augen meiner Lehrerein weiterhin als hoffnungsloser Fall zu gelten. Dies änderte sich erst, als sich der Freund meiner älteren Schwester meiner annahm. Er war ein hervorragender Zeichner und wurde später Kunstmaler. In pädagogischer Vollkommenheit malte er ein drei Meter langes Wandfries, auf dem die consecutio temporum und andere grammatische Regeln bildlich dargestellt waren. Dieses Band heftete ich über meinem Bett an die Wand, und dem Rat des Freundes folgend, schlief ich nicht mehr ein, ohne mir die Worte und Bilder auf dem Streifen eingeprägt zu haben.
So machte ich denn im zweiten Französischjahr langsam Fortschritte und gewann endlich die Anerkennung meiner Lehrerin. Trotzdem atmete ich auf, als ich nach einem weiteren Jahr einen neuen Französischlehrer bekam.
Fünf Jahre waren vergangen, seit ich die Schule verlassen hatte und in einer Buchhandlung arbeitete. Als Ehemaliger erfuhr ich aus den jährlichen Mitteilungen unserer Schule vom Tod der Elsa Nüesch. Sie war achtundfünfzig Jahre alt geworden und hatte sich die letzten drei Jahre gegen eine Krankheit gewehrt, der sie sich jedoch in den letzten Wochen mit innerer Größe und in der Zuversicht auf Gottes Güte beugte.
Noch in der Zeit, als ich in der Buchhandlung arbeitete, hatte ich einen kleinen Verlag gegründet, in dem ich Gedichte und kürzere Erzählungen damals meist noch unbekannter Autoren herausbrachte. Doch dieser Verlag konnte meine noch junge Familie nicht ernähren. Ich hatte deshalb eine Stelle als Verlagsleiter in einem theologischen Fachbuchverlag angenommen und meinen eigenen Verlag nebenbei beschränkt weitergeführt, schließlich auch nur noch, um die Restbestände zu verkaufen.
Da bekam ich eines Tages durch eine Cousine ein Manuskript mit Gedichten und tagebuchähnlichen Aufzeichnungen in die Hände. Die Cousine hatte es von einer Freundin meiner ehemaligen Französischlehrerin erhalten, die hoffte, mit der Veröffentlichung in meinem Verlag der Toten ein Denkmal setzen zu können. Obwohl ich nun keine Gelegenheit mehr hatte, die Gedichte zu veröffentlichen, las ich sie mit großem Interesse, auch mit Betroffenheit. Es waren ergreifende, schöne Gedichte, die Elsa Nüesch wohl schon während ihrer Lehrzeit am Gymnasium und in der Zeit ihrer Krankheit geschrieben hatte. In diesen feinfühligen, zarten Versen lernte ich eine ganz andere Frau kennen als jene Pflutsch, die wir Jugendlichen damals gefürchtet, geplagt und vielleicht sogar verabscheut hatten. Ich sah hinein in die Seele einer Frau, die Tag für Tag in der Angst vor ihren Schülern gelebt hatte, die sie trotz allem so sehr liebte und denen sie nicht nur die französische Sprache, sondern die tieferen Werte des Lebens hatte beibringen wollen. Die Gedichte waren Schreie der Verzweiflung und der Angst, Gesänge der Liebe zu der Jugend, die ihr anvertraut war. Ausdruck einer unendlichen Einsamkeit. Ich spürte, wie sie die Kränkungen, die ihr das Herz zu zerbrechen drohten, zu verzeihen bereit war und wie sie darunter litt. Und sie litt auch unter ihrem massigen Körper, der die liebenden und sehnsüchtigen Seiten ihrer Seele vor den Schülern so sehr verbarg, dass sie sie in ihrer jugendlichen Unbekümmertheit nicht erkennen konnten.
Wie gerne hätte ich diese Gedichte veröffentlicht, wenn ich meinen eigenen Verlag nicht schon liquidiert gehabt hätte. Obwohl die Autorin nicht mehr lebte, fiel es mir schwerer als in vielen anderen Fällen, das Manuskript zurückgeben zu müssen. Wie gerne hätte ich einen schmucken Gedichtband daraus gemacht, hätte ihn all meinen ehemaligen Klassenkameraden und -kameradinnen geschenkt, damit auch sie die andere Seite der Pflutsch, den wahren, sensiblen Menschen Elsa Nüesch kennen gelernt hätten, und damit auch ich nachträglich Abbitte hätte leisten können für mein passives Mitmachen bei den Streichen, mit denen wir unsere Lehrerin gequält und in