Die Großen und die Kleinen. Martin Renold

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Die Großen und die Kleinen - Martin Renold

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mehr als dreihundert Kilogramm Gewicht brauchte nicht viel Wasser eingefüllt zu werden.

      Das Klingelzeichen ertönte, der Schaffner schloss die Türen und trat an die Bremse.

      Einer der Blinden hatte sich bergwärts, der andere ihm gegenüber auf die Talseite gesetzt.

      „Komm, setzt dich hier neben mich!“, sagte der eine zu dem, der mit dem Rücken zur Bergseite saß. „Hier kannst du es besser sehen.“

      Ich begann an der Blindheit der beiden zu zweifeln. Es gibt ja auch Bettler, die so tun als ob… Doch diese beiden sahen weder wie Bettler noch wie Betrüger aus.

      Die Kabine setzte sich in Bewegung und rumpelte in die Höhe. Zuerst einmal aus dem Stationshäuschen hinaus, dann ein kleines Stück durch die Schlucht. Schließlich verschwand sie im Tunnel.

      „Jetzt sind wir drinnen im Loch“, erklärte der eine.

      Und bald rief er: „Schau! Siehst du es? Das Licht dort oben. Das ist der Ausgang des Tunnels.“

      „Ja, ich seh es“, antwortete der andere mit der für manche Blinde so typischen, eintönigen und fast ein bisschen blechern und hohl klingenden Stimme.

      „Schau doch!“, rief der Erstere. „Ist das nicht herrlich?“

      „Es wird immer größer und heller“, frohlockte der Zweite.

      „Ja, wir sind bald droben. Das ging schnell. Viel zu schnell.“

      Ich glaube, die beiden wollten nur um dieses Erlebnisses willen nach oben. Der eine schien diese Fahrt schon mehrmals gemacht zu haben. Ich vermute, dass er auch seinem Kameraden diese ihn beglückende Erfahrung vermitteln wollte.

      Als ich ausstieg, blickte ich in der Tat in zwei Gesichter, auf denen sich ein großes Glück widerspiegelte.

      Ich erinnere mich, dass ich als Kind jeweils auch gespannt nach oben geschaut hatte, bis das Licht am Ende des Tunnels zu erkennen war. Aber später, bis zu diesem Tag, hatte ich dem keine Beachtung mehr geschenkt. Erst die beiden Blinden hatten mir die Augen wieder geöffnet. Für sie war die Welt nach diesem Wunder wieder ins Dunkel versunken. Aber das kleine Licht aus der Höhe hatte sie glücklich gemacht.

      Ich war aus der Dunkelheit herausgetreten. Und wären die beiden Blinden nicht gewesen, ich hätte das helle Licht, das mich jetzt umfing, nicht beachtet, hätte es als selbstverständlich hingenommen und wäre selbst als ein Blinder meine Wege gegangen.

      Die Französischlehrerin

      Elsa Nüesch war unsere Französischlehrerin am Gymnasium. Wir nannten sie „Pflutsch“ wegen ihrer nassen Aussprache. Pflutsch ist der schweizerdeutsche Ausdruck für Schneematsch. Schülergenerationen vor uns hatten sie schon so genannt. Sie war damals zu Beginn des Zweiten Weltkrieges die erste und einzige weibliche Lehrkraft unserer Schule. Sie war korpulent, sehr korpulent sogar, ja, man ist versucht zu sagen unverschämt korpulent. Viele Schüler hielten sie geradezu für eine Zumutung, eine Beleidigung ihres Schönheitssinnes, der doch an dieser Brutstätte von Wissen, Bildung und Kultur gemäß Lehrauftrag in die jugendlichen Gehirne, Seelen und Herzen eingepflanzt werden sollte.

      Die Pflutsch war so dick, dass sie, mit dem Stoß Diktathefte unter dem Arm, nur seitlich durch die Tür des Schulzimmers hereinkommen konnte. Mit ihrem stechenden Blick sah sie durch die dicken Brillengläser auf uns Schüler, während sie zum Pult schritt. Ahnte sie ängstlich schon wieder einen unserer Streiche?

      Albert, der als Erster das oberste Heft mit den korrigierten Arbeiten der letzten Stunde zurückerhielt, machte erst einmal mit einem Grunzen auf sich aufmerksam und zog dann langsam sein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte, während er sein Gesicht zu einem unverschämten Grinsen verzog, auffällig lange und gründlich den Heftdeckel ab.

      Ein andermal unterlegte derselbe Albert das Pult auf dem erhöhten Podium mit runden Bleistiften. Fräulein Nüesch hob diesmal ihre schwere schmuddelige Mappe auf das Pult und stütze sich mit ihrem ganzen Körpergewicht auf den schrägen Deckel des Pultes, das sich zuerst kaum merklich zu bewegen begann. Doch dann spürte die beleibte Lehrerin das Weggleiten, fand aber keine Erklärung für dieses seltsame Phänomen. Doch das Pult rollte und rollte, und Elsa Nüesch versuchte, sich von dem wandernden Pult zu erheben. Doch je kräftiger sie ihr Gewicht von dem Pult wegstemmte, desto schneller bewegte sich das Pult dem Abgrund zu und desto hilfloser wurde Elsa in ihrem verzweifelten Bemühen, sich aufzurichten und festen Stand zu finden. Die Mädchen in der ersten Bankreihe, die Katastrophe voraussehend, lehnten sich weit zurück, um dem drohenden Sturz auszuweichen. Die beiden vorderen Bleistifte unter dem Pult hatten bereits die Kante des Podiums erreicht und fielen scheppernd auf den Boden. Die Vorwärtsbewegung des Pultes wurde abgebremst, wäre auch zum Stehen gekommen, wenn da nicht die Pflutsch mit ihrem tonnenschweren Körper sich noch immer gegen das Pult gelehnt und, ungewollt dem physikalischen Gesetz von Bewegung und Masse gehorchend, es unerbittlich weitergeschoben hätte. Es fehlten nur noch Millimeter, bis sich der Schwerpunkt über die Kante verschieben und das Pult zum Kippen bringen würde.

      Der Zwischenraum zwischen dem Podium und der vordersten Bankreihe war nur schmal. Bezeichnenderweise hatte man dem gewichtigsten und am meisten Raum beanspruchenden und außerdem einzigen weiblichen Teil des Lehrkörpers das kleinste und engste Zimmer des Schulhauses zugeteilt.

      Der Entsetzensschrei der Lehrerin fiel zusammen mit dem Krachen des Pultes, als dieses vornüberstürzte und seine Vorderfront auf die Kante der Schulbank aufschlug und wie ein gewaltiger Keil in der Grube liegen blieb. Die Mädchen kreischten und hielten ihre Hände dem herabstürzenden Koloss schützend entgegen, während durch die Reihe der Knaben ein unterdrücktes Lachen ging.

      Die Lehrerin lag wie ein zappelnder Fisch, der nach Luft ringt, auf dem Pult und versuchte vergeblich, nach hinten zu rutschen, um endlich festen Boden unter die Fußes zu bekommen.

      „So helft mir doch!“, schrie sie zornig zwei- oder dreimal, bis endlich Albert hilfsbereit nach vorne sprang. Er war der Größte von uns allen und wegen seiner Kraft, die sich nicht nur in den Muskeln, sondern auch in seiner wortgewaltigen Ausdrucksweise manifestierte, bei Schülern und Lehrern gleichermaßen berühmt. Albert neigte sich über die Frau, fasste sie unter den Achseln, nicht ohne eine geraume Weile zu versuchen, den richtigen notbehebenden Griff anzusetzen und, gegen die kichernden Mitschüler gerichtet, einige obszöne Andeutungen zu machen. Dann riss er den schweren Körper aus seiner misslichen Lage zurück und stellte die schreckensbleiche Lehrerin auf die Beine.

      „Das hat noch ein Nachspiel!“, rief sie mit ihrer hohen kreischenden Stimme und entließ die Klasse, da sie sich unfähig fühlte, uns an diesem Tag Unerreicht zu erteilen.

      Das Nachspiel fand im Zimmer des Rektors statt, der uns erst einmal eine saftige Gardinenpredigt hielt. Da die Klasse beschlossen hatte, die Schuld an dem üblen Streich kollektiv auf sich zu nehmen, blieb der Täter unerkannt, und die Klasse musste an einen freien Nachmittag zu einer dreistündigen Strafarbeit antreten.

      Wer etwa glaubt, dass nur die Jungen solche Streiche aushecken konnten, der täuscht sich gewaltig. Er kennt die Abgründe der weiblichen Seele nicht. Immerhin waren die Untaten der fünf Mädchen – sie waren in jenen weit zurückliegenden Jahren noch deutlich in der Minderzahl – harmloser. So spannten sich denn eines Tages in der ersten Bankreihe fünf farbige Damenschirme auf, die allerdings vom Regen draußen schon so nass waren, dass man nachher die Tröpfchen von Elsas feuchter Aussprache nicht mehr feststellen konnte.

      Elsa Nüesch, die das schon in anderen Klassen mehrmals

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