Im Schatten des Deiches. Fee-Christine Aks
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Читать онлайн книгу Im Schatten des Deiches - Fee-Christine Aks страница 4
„Nun bleib doch, Pelle“, murmelt Karl in seinen Mantelkragen. „Wir haben es doch gleich geschafft.“
Wie jeden Abend nach dem Abendessen haben sie das kleine Häuschen nahe der Bahnschienen verlassen, sind die Süderstraße hinunter gegangen bis zur Heimlichen Liebe und haben ihre übliche Runde gedreht: dem Sturm zum Trotz die Strandpromenade entlang bis zum Gezeitenland und dann durch den Kurpark, Lüderitz und Deichstraße zurück zur Süderstraße.
Von Minute zu Minute wird der Sturm stärker. Vielleicht hätten sie doch eher losgehen sollen. Was zehn Minuten für einen Unterschied machen können. Aber Karin hat sich einfach nicht kürzer fassen können. Karl schüttelt stumm den Kopf, als er das Gespräch mit seiner Tochter im Geiste noch einmal Revue passieren lässt.
Dass Enkelsohn Mats mit seinen dreiundzwanzig Jahren nicht unbedingt Lust auf Inselweihnachten beim Großvater hat, hätte er sich denken können. Und auch die mäßige Begeisterung von Kai ist zu erwarten gewesen, der mit seinen einundzwanzig Jahren am liebsten über die Feiertage mit seinen Kumpels ein Häuschen in Dänemark gemietet und sich zwei Wochen lang überwiegend von Hochprozentigem ernährt hätte.
Aber dass auch der kleine Sonnenschein, die neunzehnjährige Linda, gemeutert haben soll, ist schwer vorstellbar. Nach dem Drama im Sommer, als sie sich unsterblich in diesen Straßenköter-blonden Surflehrer Sebastian verliebte, hat nicht nur Karl erwartet, dass sie deutlich mehr Zuneigung für die gute alte Insel empfinden würde.
So wird es bestimmt ein gezwungen fröhliches Beisammensein werden, wenn die Familie Hagelstein-Jostermann morgen mit der Fähre aus Emden auf der Insel eintrifft.
„Nun zieh nicht so, Pelle. Ich komme ja schon.“
Seufzend wirft Karl einen letzten Blick auf die sturmgepeitschten Wogen, die mit weißen Schaumkronen den Strand hinaufrollen. Dann biegt er in den zwei-Mann-breiten Weg ein, der zum Wellnesstempel hinaufführt. Wenige Meter später zweigt ein anderer, sauber gepflasterter Weg nach rechts ab, der direkt hinter dem Deich am Kletterpark vorbei bis zur Von-Frese-Straße verläuft.
Karl biegt ein, den japsenden Dackel an der Leine vorweg, und wendet sich gleich darauf nach links, wo ein weiterer Weg zur Kulturinsel hinüberführt. Doch Pelle beschnüffelt an der Abzweigung die Pflastersteine und folgt nicht.
„Komm schon, Pelle. Es wird kalt. Lass uns nach Hause gehen. Kaninchen kannst du ein anderes Mal jagen.“
Karl erlaubt sich ein amüsiertes Grinsen in den Kragen seines Mantels. Wie oft schon ist der Dackel mit flatternden Ohren und weit heraushängender Zunge hinter den Langohren her gelaufen, natürlich ohne jemals eines zu erwischen? Aber Hunde lernen es wohl nie. Kaninchen sind für sie wie Mäuse für Katzen.
„Komm jetzt, Pelle“, wiederholt Karl leicht genervt, als der Dackel aufgeregt an der Leine zieht und den Weg hinter dem Deich hinunterlaufen will.
Gerade will Karl zum Schelten ansetzen, da reißt sich Pelle los und hoppelt laut kläffend im schönsten Dackelgalopp den Weg hinunter. Karl blickt ihm einen Moment lang verdutzt hinterher. Dann wendet er sich ärgerlich um und geht mit raschen Schritten hinterher. Einmal pfeift er, zweimal. Pelle hört nicht.
„Verdammt nochmal, Pelle! Komm augenblicklich her! Herrchen ist sehr böse.“
Doch der Hund reagiert nicht. Leise in seinen Kragen fluchend geht Karl den dunklen Weg im Schatten des Deiches hinunter, auf dem nicht das geringste Anzeichen eines Dackels zu sehen ist.
„Pelle! Jetzt ist aber mal gut! Komm her, mein Freund!“
Der Hund reagiert immer noch nicht, auch wenn Karl nun unter dem heulenden Wind ein leises Jaulen vernehmen kann. Hat der Dackel sich etwa wehgetan? Womöglich hat er ein Kaninchen erwischt oder sich, mit weitaus höherer Wahrscheinlichkeit, selbst in einem engen Kaninchenbau gefangen. Was tut man nicht alles als Hundehalter, letzten Endes ist man immer Lebensretter.
Seufzend stapft Karl den dunklen Weg entlang, bis er plötzlich zwischen zwei Büschen ein großes unförmiges Ding sieht. Im ersten Moment zuckt er vor Schreck zusammen, weil er das Ding für ein riesiges kauerndes Tier hält. Dann erkennt er den Behälter für Streusalz, der unschuldig am Wegesrand steht.
Irgendwo dahinter ist das leise Jaulen zu vernehmen, das in ein jammerndes Fiepen übergeht. Offenbar hat der vorwitzige Dackel sich wirklich verletzt, und zwar schwer genug, um nicht aus eigener Kraft auf den Weg zurückkehren zu können. Besorgt geht Karl näher und starrt angestrengt in die Dunkelheit.
„Pelle?“ ruft er leise. „Gib Laut, Kleiner! Wo bist du denn?“
Als Antwort hört er von vorne links hinter dem Behälter ein zaghaftes Fiepen, das wie ein leiser Klagelaut klingt. Vorsichtig geht Karl näher und schaut um den Behälter herum. Dahinter ist nichts als totes Gras, der Fuß des Deiches, über den der Sturm hinweg heult. Schon will Karl zurück auf den Weg gehen und weiter unten nach dem Dackel sehen, da fällt sein Blick auf den dichten Busch, der neben dem Behälter den Weg säumt.
Die dürren Zweige sind winterkahl, aber so ineinander verfilzt, dass sie geradezu eine natürliche Wand zwischen Weg und Deich bilden. Die Dunkelheit ist hier besonders undurchdringlich im Schatten des Deiches. Dennoch nimmt Karl die zitternde Bewegung wahr. Es ist der Dackel, der dort auf dem trockenen toten Gras kauert und mit traurigen Hundeaugen zu ihm aufsieht.
Karl geht näher und erwartet, dass Pelle den Kopf hebt, aufsteht und langsam mit eingekniffenem Schwanz auf ihn zu gewackelt kommt. Doch der Dackel regt sich nicht. Stumm und stocksteif hockt er mit einem leisen traurigen Fiepen auf dem harten Boden und sieht Karl entgegen.
Vorsichtig geht Karl in die Hocke und streckt die Hand nach Pelle aus. Doch noch bevor seine Fingerspitzen die Hundeschnauze erreichen, fällt seinen Blick auf das längliche dunkle Bündel, das hinter dem Dackel liegt. Beinah ganz vom Busch verborgen liegt dort etwas, das beim flüchtigen Hinsehen nur ein kurzer dicker Baumstamm sein könnte – wären da nicht die dünnen Beine in weißen Strumpfhosen über winterlichen Lederschuhen, in denen sich bleiches Mondlicht spiegelt.
Mit einem entsetzten Schrei fährt Karl hoch, was der Hund im Angesicht des Todes mit einem stummen vorwurfsvollen Blick würdigt. Es dauert mehrere Augenblicke lang, bis Karl sich wieder so weit gefasst hat, dass er noch einmal hinsehen kann. Sein Herz rast.
„Hallo? Hören Sie mich?“
Es ist eine Frau im Daunenmantel, die dort am Fuße des Deiches liegt. Sie antwortet nicht. Sie kann gar nicht antworten, das wird Karl schlagartig bewusst, als er den dicken Ast sieht, der neben der Frau im toten Gras liegt. Ist das etwa Blut, was dort am einen Ende im fahlen Mondlicht schimmert?
„Pelle!“ keucht Karl leise. „Bleib hier. Wache hier, bis ich zurückkomme. Ich geh die Polizei holen. Bleib, Junge!“
Der Dackel reagiert nicht, folgt Karl aber traurig mit den Augen, als Karl sich langsam rückwärtsgehend zurückzieht. Er atmet einmal tief durch, bevor er sich zwingt einen Fuß vor den anderen zu setzen und den Weg hinabzugehen.
Wer wohnt am nächsten? Wen kann er herausklingeln um diese Zeit? Warum