Reise - Begleitung. Jürgen H. Ruhr

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wusste ich, wie spät es war. Ich saß ja schließlich im Schlafanzug auf der Bettkante und hatte meinen Wecker gerade abgestellt. Vielleicht wusste Bernd es nicht. „Ja, sicher, Bernd. Es ist jetzt exakt zwanzig Minuten vor sieben.“

      „Achtzehn Minuten“, korrigierte mich mein Freund. Warum fragte er mich erst, wenn er es doch wusste? „Jonathan, was gibt es denn so Dringendes, dass du mich um diese Zeit am Sonntag wecken musst?“

      „Du hast mir eine SMS geschickt“, erklärte ich. „Ich muss aber Holger Hewa observieren, da kann ich doch nicht einfach um zehn Uhr in dein Büro kommen.“

      Ich hörte, wie Bernd am anderen Ende gequält aufstöhnte. „Jonathan, lass’ die Observierung sein und komm’ einfach in mein Büro. Zehn Uhr, ja? Und jetzt möchte ich noch ein wenig schlafen, also störe mich nicht länger.“ Schon legte er wieder auf.

      Die Observierung abblasen? Hatte ich gestern durch meine Aktion im Schwimmbad vielleicht die entscheidenden Hinweise gefunden? Oder gab es am Ende doch noch einen wichtigeren Auftrag für mich? Einen knallharten Einsatz vom Oberstaatsanwalt? Ich ließ mich zurück auf mein Bett sinken und dachte über einen möglichen neuen Auftrag nach.

      Ich erwachte um fünfzehn Minuten vor zehn Uhr. Während meiner Grübeleien musste ich wohl wieder eingeschlafen sein. Ärgerlich, dass ich vergessen hatte, meinen Wecker erneut zu stellen. Jetzt hechtete ich aus dem Bett, fuhr mir schlaftrunken über das Gesicht und versuchte zu überlegen, was ich als erstes tun sollte. Schuhe an, Autoschlüssel schnappen und los. Nein, erst lieber noch etwas anziehen, ich konnte ja schlecht im Schlafanzug durch die halbe Stadt fahren.

      Der Einfachheit halber schnappte ich mir meine Sachen vom Vortag und verzichtete auf Waschen und Frühstück. Innerhalb weniger Minuten saß ich in meinem Wagen und fuhr mit quietschenden Reifen an.

      Bernds Büro lag im Güdderather Industriegebiet. Er unterhielt dort ein Sportstudio, ‚Krav Maga’, wobei der Begriff ‚Sportstudio’ wirklich untertrieben war. In dem Gebäude befanden sich ein Schießstand, eine Bibliothek, ein kleines Schwimmbad, sowie diverse Trainingsräume. Und unter dem ganzen Komplex gab es eine Tiefgarage mit einer exklusiven Auswahl an Fahrzeugen. Im gleichen Gebiet, ein paar Straßen weiter, war auch das Gebäude unserer Detektei. Bernd hatte es günstig von einem in Konkurs gegangenen Unternehmen gekauft, das versucht hatte mit der Digitalisierung von Akten Geld zu verdienen.

      Ich wohnte seit einiger Zeit im Ortsteil Wickrath. Christine, meine ehemalige Sekretärin und jetzige Kollegin, hatte die Räume unter mir gemietet. Sie war es auch gewesen, die mir meine Wohnung vermittelte. Von dort aus bis zu Bernds Büro musste ich gerade einmal zehn Minuten mit dem Auto fahren - wenn ich nicht trödelte. Was ich jetzt auch nicht tat. Die eine oder andere rote Ampel interessierte mich nicht und so schaffte ich es, um exakt zehn Minuten nach zehn Uhr mit quietschenden Reifen auf dem Parkplatz vor Bernds Krav Maga Studio zum Stehen zu kommen. Um zehn Uhr fünfzehn stand ich keuchend vor Bernds Schreibtisch.

      „Guten Morgen, Jonathan“, Bernd sah demonstrativ auf seine Uhr. „Du bist exakt sechzehn Minuten zu spät!“

      „Um zehn nach war ich auf dem Parkplatz, also eigentlich nur zehn Minuten ...“, erklärte ich kleinlaut. Bernd sah mich nur zweifelnd an.

      „Setz’ dich, Jonathan. Du brauchst mir jetzt nichts zu erklären, das hat schon die Polizei erledigt.“ - „Die Polizei?“, echote ich fragend und war mir sicher, dass ich bei Bernd fleißig Pluspunkte sammelte. Die Beamten hatten ihn bestimmt darüber informiert, dass Holger Hewa mit seinen Freundinnen im Schwimmbad von offizieller Seite beobachtet wurde. Also so, wie ich es vermutet hatte!

      „Ja, Jonathan. Die Polizei. Gestern Abend noch. Es ging um deinen Auftritt im Schwimmbad. Was denkst du dir eigentlich dabei, wenn du solchen Unsinn verzapfst?“

      Ich schluckte. Dabei denken? Eigent...

      Aber Bernd sprach weiter, seine Frage schien also rein rhetorischer Natur zu sein: „Holger Hewa hat keine Freundin. Die Ehefrau steigerte sich da in etwas hinein, weil ihr Mann in letzter Zeit häufig abwesend gewesen war. Aber für diese Abwesenheit gab es auch einen Grund: Holger Hewa wurde nämlich umgeschult. Der Mann war lange Zeit arbeitslos und das Arbeitsamt besorgte ihm schließlich eine Stelle als Bademeister. Dazu war es aber notwendig, dass er zunächst einige Schulungen absolvierte. Herr Hewa wollte das Ganze seiner Frau dann als Überraschung präsentieren, wenn alles ganz sicher, also endgültig in trockenen Tüchern war. Diese Informationen hättest du allerdings auch mit ein oder zwei Telefonanrufen bekommen können!“

      „Wie das? HH war ja ständig unterwegs“, versuchte ich eine Rechtfertigung. Sicher, Holger war oft in die Stadt gegangen. Jetzt, da ich darüber nachdachte - ja, er war mehrere Male beim Arbeitsamt gewesen. Ja, er kaufte in einem Laden in der Sportabteilung ein. Aber wer kann denn ahnen, dass der Mann einen neuen Job antrat?

      „Der Auftrag ist erledigt. Herr Hewa wollte heute alles mit seiner Frau besprechen und ich gehe davon aus, dass sie nun kaum eine weitere Beobachtung ihres Mannes wünschen wird. Und ob die Frau für deine zweifelhaften Bemühungen bezahlen wird, glaube ich auch nicht. Das war nicht gerade eine Glanzleistung, Jonathan.“ Bernd blickte wieder auf seine Uhr. „Ruhe dich heute noch ein wenig aus, geh’ ins Schwimmbad oder mach’ sonst irgendetwas. Morgen Punkt neun Uhr treffen wir uns drüben im Präsentationsraum. Und wenn ich sage, Punkt neun Uhr, dann meine ich auch Punkt neun Uhr!“

      Ich nickte. Dann fiel mir noch etwas ein: „Bernd, in das Schwimmbad kann ich nicht, dort habe ich Hausverbot.“

      Bernd grunzte etwas, was ich nicht verstand.

      Gut, ein freier Sonntag. Und das bei dem herrlichen Wetter. Während ich zu meiner Wohnung zurückfuhr - schön gesittet und den Verkehrsregeln entsprechend - dachte ich darüber nach, ob ich nicht mit Christine etwas unternehmen sollte. Chrissi, wie ich sie auch nannte, würde bestimmt schon wach sein. Vielleicht konnte ich ja auch bei ihr frühstücken. Und anschließend würden wir gemeinsam den Sonntag genießen ...

      Schon damals, als sie noch meine Sekretärin gewesen war - ich kam gerade aus Frankfurt nach Mönchengladbach zurück und meine Eltern nötigten mich als Privatdetektiv selbständig zu werden - machte sie mir unmissverständlich klar, dass ich nicht ihr Typ sei. Also gab ich meine Versuche, sie zu erobern auf und wir wurden gute Freunde. Also Freund und Freundin quasi. Guter Freund und gute Freundin. Nachdem meine Karriere als Privatdetektiv dank einer Bande von kriminellen Chinesen den Bach heruntergegangen war, beziehungsweise dem Brandanschlag dieser Verbrecher zum Opfer fiel, stellte Bernd uns beide als feste Mitarbeiter in seinem Krav Maga Sportstudio an. Das beinhaltete auch Dienstleistungen im Personenschutz. Und später eröffnete Bernd das Detektivbüro ‚Argus’, um Aufträge vom Oberstaatsanwalt offiziell annehmen zu können. Naja, halb offiziell - also gut, gar nicht offiziell - mehr so am Rande der Legalität. Chrissi und ich gehören zu der Mannschaft. Und Sam, der kleine kampferprobte Doktor der Naturwissenschaften mit asiatischen Wurzeln, sowie Monika, die verheiratet ist und noch als Übersetzerin arbeitet. Und noch einige mehr, die alle zusammen ein starkes Team bilden.

      Ja, ja. Ich weiß: Und natürlich die Zicke, also mit richtigem Namen Birgit Zickler. Unsere Sekretärin in der Detektei. Bunt gefärbte Haare, flippige Kleidung und ein freches Mundwerk, das seinesgleichen sucht. Ich persönlich würde sie ja lieber gegen die Sekretärin vom Sportstudio tauschen: Jennifer Enssel, die blonde Schönheit. Jennifer ist ein wirklicher Engel: sie sorgt stets für frischen Kaffee, sowie kalte Getränke und sogar für belegte Brötchen. So ganz anders als die Zicke, die für mich nur schnippische Worte übrig hat.

      Christine öffnete nicht. Zunächst versuchte ich es mit normalem Klingeln, dann mit intensiverem Schellen, danach rhythmisch. Nichts. Entweder schlief sie

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