Felsenmond. Jasmin Adam

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Felsenmond - Jasmin Adam

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Töchter studieren zu lassen. Noch bis vor wenigen Jahren wäre das eine große Ausnahme gewesen! Tatsächlich war auch Sausans Mutter, wie die meisten Frauen ihrer Generation, eine Analphabetin. Doch auch sie erhoffte sich für ihre Töchter durch das Studium eine bessere Zukunft und mehr Unabhängigkeit.

      Wie immer schien die Sonne von einem strahlend blauen Himmel, als Sausan später das Haus verließ und sich auf den Weg zum College machte. Tief atmete sie die frische Bergluft ein. Wie gerne hätte sie die Luthma, ihren Gesichtsschleier, gelüftet, um die Sonne auf der Haut zu spüren! Es würde heute wohl wieder ein heißer Tag werden, aber jetzt war es noch angenehm frisch. Sausan blieb stehen und ließ ihre Blicke schweifen. Sicherlich wird bald die Regenzeit beginnen, überlegte sie, dann wird der Regen endlich den Staub von Felsen, Bäumen und aus der Luft waschen, die Berge werden sich in ihr grünes Sommergewand kleiden und wir werden uns alle wie neugeboren fühlen! Sausans Blick folgte den schmeichelnden Konturen der sich bis zum Horizont hin staffelnden Bergketten. Ein wunderschönes Land!

      Wenn es nach ihr ginge, würde Sausan auf ihrem täglichen Weg zum College gern alleine die Stille und Einsamkeit genießen und ihre Gedanken frei fliegen lassen, aber stattdessen machte sie auch heute wieder ihren kleinen Abstecher, um Malika, eine Mitstudentin, abzuholen. Das war zwischen den Familien so vereinbart worden, denn es wäre unschicklich für ein Mädchen, täglich alleine zum College zu laufen. Schließlich könnte sie dann ja auf die Idee kommen, sich unterwegs mit fremden Männern zu treffen, und das würde den Ruf der ganzen Familie zerstören! Sausan seufzte. Immer dieser Argwohn! Aber sie war zu fast jedem Kompromiss bereit, solange sie nur studieren durfte. Das Englischstudium machte Sausan viel Spaß. Und es lieferte ihr obendrein einen willkommenen Vorwand, um zu Hause die amerikanischen Serien zu schauen, welche sich über Satellit empfangen ließen: Sie musste schließlich ihr Hörverständnis verbessern! Doch vor allem bot ihr das Studium der englischen Literatur die Möglichkeit, sich mit Gedanken und Weltbildern auseinanderzusetzen, die ihrem eigenen Erfahrungshorizont so weit entrückt schienen wie – ja, wie der Osten vom Westen. Sausan musste schmunzeln. Sie hatte sich immer schon gefragt, wie das überhaupt Sinn machen sollte, die Himmelsrichtungen auf einer Kugel festzulegen. Wenn man von seinem Standpunkt aus immer weiter gen Osten wanderte, so käme man doch irgendwann von Westen her wieder an denselben Ausgangspunkt zurück, oder etwa nicht?! Vielleicht war das ja mit den Traditionen, Philosophien, Religionen auch so? Wenn sie immer und immer weiter entlang derselben Linie dachte, wo käme sie dann letztendlich an? Auch auf der entgegengesetzten Seite?

      Sausan liebte solche kleinen Gedankenspiele, sie wusste aber auch, dass sie vorsichtig sein musste und sich nicht zu weit in die Welt ihrer Gedanken hineinwagen durfte. Denn sonst stieß sie unweigerlich innerhalb von kürzester Zeit an eine Mauer von Tabus, und dieses Gefühl frustrierte sie dermaßen, dass sie manchmal Angst bekam, ihre Gedanken könnten sich irgendwann verselbstständigen, schneller und immer schneller hin und her rasen und an Mauern knallen, bis sie verrückt würde.

      Als kleines Mädchen hatte sie oft Fragen nach dem „warum“ und „wozu“ gestellt. Das war aber gar nicht gerne gesehen, sondern als vorlaut und gotteslästerlich kritisiert worden. Auch in der Schule hatten die Lehrer irritiert und argwöhnisch reagiert, wenn sie Fragen stellte, die den Gesamtzusammenhang und die Ursachen betrafen. Wollte sie etwa die Autorität der Lehrer infrage stellen? Oder gar Wissenslücken bei ihnen aufdecken? Wollte sie sich selbst wichtigmachen oder den Lernfortschritt der Klasse behindern?

      Eine Zeit lang hatte Sausan dann ihre unbeantworteten und zum Teil ungestellten Fragen in einem kleinen Heftchen aufgeschrieben, in der Hoffnung, irgendwann jemanden zu treffen, dem sie all diese Fragen würde stellen können. Und immer, wenn sie sich einsam und missverstanden fühlte, hatte sie sich in dieses Heftchen vertieft und seine Ränder mit fantasievollen Zeichnungen aus ihrer Traumwelt verziert. Doch dann war das Heft ihrem großen Bruder bei einer seiner Razzien in die Hände gefallen. Erst hatte er sich über sie lustig gemacht und gedroht, das Heft überall herumzuzeigen. Dann hatten sie gestritten, er war wütend geworden, hatte sie als Ungläubige beschimpft und schließlich das Heft kurzerhand verbrannt. Damals war Sausan etwa zwölf Jahre alt gewesen. Sie hatte daraus gelernt. Aufgeschrieben und gezeichnet hatte sie nichts mehr, auch nicht mehr viele Fragen gestellt. Aber sie hoffte immer noch auf jemanden, der so dachte wie sie und mit dem sie ihre Gedanken und Fragen teilen und vielleicht gemeinsam auch Antworten finden konnte.

      Inzwischen war Sausan am Haus von Malika angekommen. Eigentlich waren die zwei Mädchen so verschieden, wie man nur sein konnte. Doch da sie sich schon von der ersten Klasse an kannten und nun zusammen Englisch studierten, verbrachten sie viel Zeit miteinander. Sausan klopfte, blieb jedoch vor der Tür stehen, als von drinnen ein „Ja? Wer ist da?“ ertönte.

      „Ich bin es, Sausan. Bist du so weit?“ Statt einer Antwort ging die Tür auf und Malika trat hinaus. Noch nie hatte Sausan auf Malika warten müssen, sie war das Pflichtbewusstsein in Person. Malika war ein ganzes Stück kleiner als Sausan. Auch sie trug den langen schwarzen Balto und vor dem Gesicht die Luthma. Während Sausans Balto jedoch an den Ärmeln und dem Saum mit filigranen Stickereien verziert war, besaß Malikas Balto keinerlei Schmuckelemente.

      „Wie geht es dir?“, fragte Sausan und begrüßte die andere mit einem Kuss auf beide Wangen.

      „Allah sei gelobt. Und dir?“, erwiderte Malika den Gruß. „Wir müssen uns beeilen, es ist schon spät!“

      „Wirklich?“, fragte Sausan erstaunt und schaute auf ihre Uhr, aber die war wieder einmal stehen geblieben. Daraufhin holte sie ihr Handy aus der Tasche. „Tatsächlich. Komisch. Ich dachte, ich sei heute früher losgegangen. Na ja.“

      Schweigend gingen die beiden weiter, denn statt auf der Straße zu laufen, die in weiten Serpentinen den Berg hinaufführte, folgten sie nun einem schmalen holprigen Pfad, der sich steil zwischen den Häusern hindurchschlängelte, aber eine enorme Abkürzung darstellte. So kamen sie dann auch noch gerade rechtzeitig zum Beginn der ersten Stunde an.

      Professor Mumbai war Inder und unterrichtete schon viele Jahre an diesem College. Neben ihm gab es in der Englischfakultät noch mehrere irakische Professoren und neuerdings auch einen Jemeniten. Professor Mumbai war beliebt, da er gerecht war und sich ernsthaft bemühte, in seinen Studenten die Liebe zur Literatur zu wecken. Es gab aber auch Studenten, die ihm mit kühler Verachtung begegneten. Malika gehörte dazu. Als Sausan sie einmal nach dem Grund dafür fragte, hatte Malika erstaunt erwidert: „Professor Mumbai ist Hindu, weißt du das denn nicht? Er betet Kühe und Elefanten an und Tausende von Göttern mit vielen Köpfen und Unmengen von Brüsten und was weiß ich noch alles für schreckliche Gestalten. Wie kann ein intelligenter Mensch nur an so etwas glauben? Davor habe ich keinen Respekt!“ Sausans Neugierde war geweckt, und so hatte sie den kleinen rundlichen Professor gleich nach der Stunde abgepasst und gefragt, ob er tatsächlich Hindu sei. Daraufhin hatte dieser sich erst nachdenklich an der Nase gerieben und Sausan dann direkt in die Augen geschaut. „Ich wurde als Hindu geboren, das ist wahr. Aber ich bin Atheist. Ich glaube nicht an Gott.“ Dann hatte er kurz genickt, sich umgedreht und war gegangen. Das wiederum war für Sausan fast nicht zu glauben. Dass jemand eine falsche Gottesvorstellung hatte oder dem falschen Propheten folgte oder aber einfach Gott ungehorsam war und sich seinem Willen widersetzte, all das konnte man sich ja noch vorstellen. Aber dass ein Mensch, noch dazu einer, der studiert hatte und sehr belesen war, die Dreistigkeit besaß, Gott einfach zu leugnen? Wo doch die ganze Welt in ihrer Vielfalt und Komplexität tagtäglich bezeugte, dass es einen Schöpfer gab? Unvorstellbar! Wie man Gott verstehen solle und wie man ihm gefallen könne, darüber ließ sich ja vielleicht streiten, aber an seiner Existenz zu zweifeln, das war selbst Sausan zu abgehoben. Trotzdem mochte sie den kleinen Professor, auch wenn er ihr jetzt irgendwie leidtat. Ganz allein in einem fremden Land und noch dazu ohne Gott? Der Arme!

      Heute war es jedoch nicht wie erwartet Professor Mumbai, der den Raum betrat, sondern der irakische Fakultätsleiter und mit ihm ein junger fremder Ausländer. Die Studenten waren augenblicklich still und blickten erwartungsvoll auf die beiden Männer.

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