Wind über der Prärie. Regan Holdridge
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Oben, unter den beiden Schornsteinen, an der Reling, hatten sich bereits Menschentrauben versammelt. Die Sonne strahlte inzwischen vom Himmel und wärmte die Gesichter der Passagiere und derjenigen, die am Pier zurückblieben. Die „Elbe“ stieß zwei langgezogene, ohrenbetäubende Pfiffe aus – es war das Zeichen zur Abfahrt.
„Kommt hierher!“ Eifrig deutete Hubert auf seinen Platz zwischen einigen jungen Männern, den er sich erobert hatte. Er schob Nikolaus vor sich, sodass der Junge über die Eisenstangen blicken konnte, hinab auf die Anlegestelle, wo unzählige Arme winkten und Taschentücher sich im Wind schwenkten. Es war ein berauschender Anblick. Die Holzprielen wurden eingezogen und die Türen mit einem lauten Schlag verschlossen. Ein paar Matrosen liefen umher und lösten die Taue, die in bedachter Ruhe eingeholt wurden. Im nächsten Augenblick ging ein Rumpeln und eine Erschütterung durch den Schiffskörper. Schwarzer, dicker Rauch stieg aus den beiden Schornsteinen empor. Langsam, sehr langsam legte die „Elbe“ vom Landungssteg ab. Es zischte und rauchte und dampfte und sie glitt durch das Wasser, der Nordsee und dem Ozean entgegen. Die Menschen, die am Pier zurückgeblieben waren, wurden kleiner und kleiner, ebenso wie die Häuser der Stadt Bremerhaven immer winziger wurden und das Spielen der Kapelle leiser – „Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus...“
„Jetzt ist es endgültig“, sagte Hubert leise, sodass nur Nikolaus und Juliane es verstehen konnten, die dicht zusammengedrängt neben ihm standen. „Jetzt sind wir für immer fort von unserer Heimat und dem Ort, wo wir geboren worden sind.“
„Denkst du wirklich, es ist für immer?“, fragte das junge Mädchen leise und schluckte. Ihr Herz fühlte sich bleiern an und sie glaubte, jeden Moment die Beherrschung zu verlieren. Sie hatten aufgehört, Deutsche zu sein. Bald würden sie zu Amerikanern werden und eine andere Nationalhymne singen. Sie würden eine andere Sprache sprechen und in einem fremden Land leben, das Glück, Erfolg und Reichtum versprach. Doch ganz gleich, wie es dort sein würde – es war nicht ihr Zuhause. Es war die Fremde, die sie ängstigte und die Gewissheit, all ihre Freunde und Nachbarn heute zum letzten Mal in ihrem ganzen Leben gesehen zu haben, die sie traurig stimmte. Die Endgültigkeit war nur schwer für sie zu fassen.
„Ja“, sagte Hubert ehrlich und starrte hinüber, zu den Häusern, die sich zu kleinen Punkten verwandelten. „Wer einmal nach Amerika ausgewandert ist, kommt nicht mehr zurück.“
Juliane schaute ihn an. „Glaubst du, wir werden es schaffen?“, wollte sie wissen und flehte, er würde sie nicht belügen. Sie wollte die Wahrheit wissen, ganz gleich, wie diese aussah.
Einen Moment biss ihr älterer Bruder sich auf die Lippen und schwieg. Er wollte sie nicht beunruhigen, aber sie hatte ein Recht darauf zu wissen, was sie erwartete.
„Nun...“ Er seufzte. „Von allem, was ich so gehört habe, ist es oft schwierig und gefährlich. Die Indianer wollen sich ihr Land nicht wegnehmen lassen und es kommt immer wieder zu Auseinandersetzungen. Nicht überall gilt bereits Gesetz und Ordnung und es gibt viele Banditen. Dieses Land ist noch nicht bezwungen und wir werden ein Teil der Geschichte werden. Vielleicht werden wir miterleben wie es ruhiger und sicherer wird, wir werden selber Geschichte schreiben.“
„Ein Teil der Geschichte“, wiederholte Juliane nachdenklich und starrte hinunter auf das dunkle, wellenschlagende Wasser. „Und welchen Preis müssen wir dafür bezahlen, Hubert? Für welchen Preis werden wir zu den Pionieren gehören? Ich habe so viel Schreckliches gelesen...“
Er wandte den Kopf und schaute sie an, verblüfft über ihren scharfen Blick für die Wirklichkeit. Er wusste darauf nichts zu erwidern, außer ihr stumm rechtzugeben. Niemand konnte ihnen sagen, wohin diese Auswanderung führen würde und er verdrängte jede Vorstellung an Schlechtes, so gut er konnte. Er freute sich auf dieses Land, auf all die Menschen unterschiedlichster Rassen, er wollte sich freuen und anstatt der Gefahren nur die Möglichkeiten sehen. In seinem Kopf entstand bereits das Bild seines eigenen Häuschens, irgendwo auf einem riesigen Stück Land, das er dann selbst bewirtschaften konnte und auf dem er Schafe züchten wollte.
Die ersten Tage auf See verliefen ohne Störungen oder Abwechslung verschaffende Zwischenfälle, zumindest abgesehen davon, dass Juliane, Hubert und Luise die ersten drei Tage unter entsetzlicher Seekrankheit litten. Danach jedoch hatten sie sich an den Wellengang gewöhnt und jeder bemühte sich, die beginnende Langeweile und den öden Anblick des immer gleichen Meeres auf irgendeine Weise zu bekämpfen und sich anderweitig zu beschäftigen. Friedrich lernte zusammen mit Luise und seinen drei Kindern jeden Tag mehrere Stunden englische Grammatik und Vokabeln. Er wollte, dass sie der Sprache halbwegs mächtig wären, wenn sie in New York einliefen. In der wenigen Zeit dazwischen ging er meistens spazieren und weil alle Passagiere ihn mit seiner langen, schwarzen Kutte sofort als Geistlichen erkannten, kam er von diesen Erkundungsgängen oft lange nicht zurück. Die Menschen vertrauten ihm ihre Probleme und Sorgen an, baten ihn um Rat oder Unterstützung und er fühlte sich ihnen verpflichtet.
Es war der sechste Tag, nachdem sie Bremerhaven hinter sich gelassen hatten. Hubert und Juliane strichen auf dem Deck umher, wo ein kalter Nordwind pfiff und ihnen den Aufenthalt bald verleidete. Nikolaus spielte mit ein paar anderen Kindern und einem Ball aus zusammengeknüpften Stoffresten. Keinem von ihnen schien kalt zu sein.
Juliane beobachtete ihren kleinen Bruder inmitten der anderen Kinder, die aus ganz Deutschland stammten und alle mit ihren Eltern nach Bremerhaven gereist waren, um von dort aus die „Elbe“ zu besteigen.
„Er ist viel kleiner als die anderen“, stellte sie auf einmal fest, während sie sich an die Reling lehnte. Hubert folgte ihrem Blick und nickte kurz.
„Stimmt“, gab er zu und betrachtete den schmächtigen Jungen mit demselben braunen Haar wie das seine. „Das wird vermutlich mit der Lungenentzündung zusammenhängen, die er als Kleinkind hatte.“
„Wahrscheinlich“, nickte Juliane nachdenklich. Sie und ihre beiden Brüder waren die einzig Überlebenden der sieben Kinder, die ihre Mutter geboren hatte. Alle anderen lagen auf dem Friedhof ihrer Kirche beerdigt, gerade einmal mehrere Wochen oder Monate alt geworden.
„Was ist?“, fragte Hubert, während er das junge Mädchen eindringlich betrachtete. „Du schaust auf einmal entsetzlich verbittert aus! He, du bist ganze sechzehn!“ Er boxte sie aufmunternd in die Seite. „Du hast dein ganzes Leben noch vor dir und nur, weil wir jetzt auswandern...daraus lässt sich etwas machen!“
„Ja, schon...“ Juliane legte den Kopf schief, ohne ihre Augen von einem unbestimmten Punkt, irgendwo hoch oben am vorderen Schornstein, abzuwenden. „Ich musste nur gerade an die anderen denken.“
Die anderen...Hubert seufzte. Er kannte das bereits. Immer wieder kam sie auf ihre verstorbenen Geschwister zu sprechen und manchmal fragte er sich, inwiefern sie der Tod all dieser Kinder geprägt und vielleicht auch verändert hatte. Sie war als zweite nach ihm geboren worden. Die beiden Schwestern, die kurz hintereinander auf die Welt gekommen waren, hatten beide nicht überlebt, erst wieder Nikolaus. Und dann waren nach ihm noch einmal zwei Mädchen gewesen, die es ebenfalls nicht geschafft hatten.
„Das ist vorbei“, sagte Hubert ausweichend und verschränkte die Arme vor der Brust. Er sah noch heute seine Mutter dasitzen, gegrämt und voller Trauer. „Das ist eben so. Das ist das Leben.“
„Ich werde das nie verstehen“, erwiderte Juliane mit einer derartigen Emotion in der Stimme, die ihren großen Bruder erstaunt aufblicken ließ. „Da quält sich eine Frau mit dieser Geburt und dann? Wozu? Damit ihr Kind gar nicht groß werden darf?“
Hubert schluckte. Das war