Wind über der Prärie. Regan Holdridge
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Endlich, für Nikolaus und Juliane kaum abzuwartende, zehn Minuten später führte auch ihr Weg hinauf aufs Deck. Unten, in den Korridoren und den Kabinen herrschte erregte Aufbruchstimmung.
Sie hatten nicht den Schimmer einer Ahnung, dass sie nicht sofort in Castle Garden, an der Spitze von Manhattens Insel würden anlegen dürfen. Dort befand sich die Anlegestelle für alle Immigranten. Zuerst würde ein offizieller Gesundheitsinspektor erscheinen und alle Anwesenden an Bord kurz nach irgendwelchen Anzeichen von ansteckenden Krankheiten wie Pocken, Typhus oder Cholera untersuchen. Danach würde er sich die Unterlagen der Todesfälle an Bord zeigen lassen. Wenn alles in Ordnung wäre, würde er ihnen die Erlaubnis geben, zum Zielhafen weiterzufahren, andernfalls würde das komplette Schiff erst einmal unter Quarantäne gestellt.
All diese organisatorischen Vorgänge waren den meisten Einwanderern völlig unbekannt, während sie sich wild und aufgeregt an Deck drängten. Alle wollten sie nur endlich einen ersten Blick auf Amerika erhaschen. Es herrschte dichtes Gedränge und eine Art Festtagsstimmung schien ausgebrochen zu sein. Ein paar Flaschen Wein wurden herumgereicht, einige junge, wohl bereits angetrunkene Männer sangen deutsche Volkslieder und Hubert beschloss, an einem der Stützseile der Schornsteine ein Stück hinauf zu klettern.
„Was soll denn das?“, brüllte Friedrich gegen das Stimmengewirr und den Lärm zu ihm hinauf. „Komm sofort wieder herunter!“
„Aber wieso denn?“, schrie Hubert zurück. „Von hier oben sehe ich viel mehr!“
Und er blieb, wo er war. Er konnte nicht verhindern, dass sein Herz mit jeder Minute schneller und stärker in ihm zu schlagen begann. Seine Augen hingen an den Fluten des Meeres, durch das sich der Dampfer schob und zwischen denen in absehbarer Zeit Amerika vor ihnen auftauchen musste. Hubert bekam nicht mit, was unter ihm herum geschah. Er bemerkte weder, dass Nikolaus sich ein Stück weit nach oben zu ihm getraute, noch, wie Juliane sich sanft und doch bestimmt soweit bis zur Reling nach vorn drängte, dass sie etwas sehen konnte.
„Da!“, brüllte plötzlich jemand hinter ihm und er kniff die Augen zusammen. „Land in Sicht!“
Wildes Geschrei und Jubelstürme brachen los und jetzt entdeckte auch Hubert, wie sich vor ihnen dunkle Schatten zu erheben begannen. Sie waren am Ziel und auf einmal ging alles sehr schnell. In kürzester Zeit hatten sie das Festland erreicht und der Dampfer drosselte sein Tempo merklich.
Nachdem der Gesundheitsinspektor sie für einwanderungsfähig befunden hatte, fuhren sie zunächst in gemäßigtem Tempo weiter nach Castle Garden, wo die „Elbe“ endlich Anker legte. Ein letztes Mal stieß sie ihren dumpfen, langgezogenen Pfiff aus, der zum Ende hin schrill anschwoll, dann drängten sich die Passagiere zu den Ausgängen. Sie wollten hinaus, in die kühle, windige Frühjahrsluft, die über die Insel und die Hafenanlage strich. Hinaus in das fremde, unbekannte und unvorstellbar große Land, das sie von nun an ihr Zuhause nennen würden.
In Lastkähnen und Schleppern wurden die Einwanderer vom Dampfer zum Castle Garden Anlegesteg gebracht, wo erneut einige Sanitätsoffiziere auf sie warteten und sich vergewisserten, dass sich tatsächlich keine kranken Passagiere unter ihnen befanden. Nach dieser Untersuchung und der Prüfung ihres Gepäcks, das erneut in einem separaten Raum verstaut wurde, betraten sie das runde Gebäude mit dem mächtigen Glasdom auf der Kuppel durch einen langen Gang. Sie fanden sich im Zentrum des Rundbaus wieder, wo sie sich in Reih und Glied in unterschiedlichen Abteilungen anstellen mussten, je nachdem, ob jemand der englischen Sprache mächtig war oder nicht.
„Verflixt und zugenäht!“, fluchte Juliane unbeabsichtigt und verdrehte die Augen, bevor sie sich auf eine der Holzbänke fallen ließ. „Das kann ja Stunden dauern!“ Sie beobachtete die anderen Passagiere, die ebenfalls mit ihrem Schiff angekommen waren und sich kontinuierlich durch die Türe in das Gebäude schoben und drängten.
„Juliane!“ Der empörte Aufschrei ihrer Mutter ließ sie zusammenzucken. „Wirst du wohl aufhören, dich wie ein Zigeuner zu benehmen?!“
„Ja, Mutter!“ Mit einem leisen Ächzen folgte das Mädchen ihrer Familie hinunter zu den zirkelähnlich angeordneten Schreibtischen, wo ein ganzes Dutzend Männer damit beschäftigt war, die Registrierungen der Neuankömmlinge vorzunehmen.
„Das ist...einfach überwältigend“, bemerkte Hubert nach einer ganzen Weile, in der er nichts anderes tat, als die riesige Halle genau in Augenschein zu nehmen. Balkone waren rundherum an den Wänden errichtet worden und der majestätische Dom aus Glas über ihnen erhellte das komplette Innere des Gebäues.
„Wann gehen wir denn jetzt?“, wollte Nikolaus ungeduldig wissen, während er permanent herumhüpfte und ständig in irgendwelche anderen Menschen hinein rempelte. „Gehen wir jetzt auch bald raus?“
„Ja, gleich!“ Sein Vater legte ihm seine Hände auf die Schultern und hoffte inständig, der Junge würde jetzt endlich still sein, nachdem er ihm ohnehin keine Antwort auf seine ständige Fragerei geben konnte.
Hunderte von Personen hielten sich in dem Rundbau auf, warteten, genau wie sie und bei Einbruch der Dunkelheit waren sie zwar endlich registriert, allerdings immer noch ohne Erlaubnis, das Gebäude zu verlassen.
„Amerika“, grinste Hubert sarkastisch, während er auf eine der Holzbänke sank und hinter vorgehaltener Hand ein Gähnen versteckte. „Wir sind da!“
„Was sollen wir denn jetzt tun?“, jammerte Luise und setzte sich neben ihren Sohn. „Wir haben die letzten paar Tage auf diesem schrecklichen, schaukelnden Dampfer verbracht und ich würde mir wirklich nichts mehr wünschen, als ein Bett und ein warmes Bad. Einfach nur das, sonst nichts.“ Hoffnungsvoll blickte sie zu ihrem Ehemann hinauf. „Können wir es uns nicht leisten, zumindest für eine Nacht, in einer Pension oder etwas ähnlichem zu bleiben?“
Friedrich runzelte die Stirn. „Das können wir gerne machen, obwohl ich gehofft habe, wir könnten das Geld für unsere Reise westwärts sparen.“
„Du kannst doch nicht ernsthaft vorhaben, heute Nacht noch ein Ticket für die Eisenbahn zu kaufen?“ Seine Frau schnappte nach Luft.
„Nein, nein“, versicherte er hastig. „Ich habe nur laut nachgedacht...“
Einer der führenden Offiziere der Einwanderungsbehörde betrat nun den Rundbau und informierte die versammelten Menschen, dass sie die Nacht hierbleiben dürften, sollten sie nicht anderweitig schon von Verwandten erwartet werden oder bereits eine Unterkunft haben. Ebenso wäre es ihnen gestattet, gleich die Weiterreise anzutreten, ob nach Westen, Osten, Nord oder Süd, wie auch Geld zu wechseln oder sich mit Freunden und Verwandten in Verbindung zu setzen.
Juliane konnte nur müde lächeln – sie verstand nicht die Hälfte dessen, was der Mann ihnen gerade erklärt hatte und sie spürte noch nicht einmal mehr das Heimweh, das sie während der Reise gequält hatte. Osten oder Westen, Zuhause ist’s am besten, dachte sie und schloss ihre Lider für einige Sekunden.
„Ich habe Hunger“, verkündete Nikolaus.
„Ich auch!“, schloss Juliane sich an, was ihr einen strengen, rügenden Blick ihrer Mutter einbrachte. Eilig senkte das junge Mädchen den Blick. Weshalb konnte sie eigentlich nicht einmal den Mund halten, wenn sie doch schon vorher ahnte, dass es falsch war, was sie sagen wollte? Wieso konnte sie nicht einmal an der richtigen Stelle still sein, wenn es alles andere als damenhaft war, wie sie sich gab und wenn ihr das auch noch von vorn herein bewusst war?
Friedrich fand den Inhaber einer