DER ABGRUND JENSEITS DES TODES. Eberhard Weidner

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DER ABGRUND JENSEITS DES TODES - Eberhard Weidner Anja Spangenberg

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Es war dasselbe Knarzen, das sie zuvor gehört hatte. Ohne etwas dagegen tun zu können, hob sich ihre zierliche linke Hand. Sie legte sich auf die Türklinke, die sich unter ihren Fingern warm anfühlte, so als hätte jemand sie umfasst gehabt und erst vor wenigen Sekunden losgelassen.

      Tu das nicht!

      Ihre innere Stimme schrie so gellend in ihrem Verstand, wie sie es ebenfalls gern getan hätte. Und sei es auch nur, um sich Erleichterung zu verschaffen. Doch es waren nicht nur ihre Beine, Füße, Arme und Hände, die ihr nicht mehr gehorchten. Ihr ganzer Körper verweigerte den Dienst.

      Der Schrei in ihrem Kopf war noch nicht verhallt, da drückte ihre Hand auch schon die Klinke nach unten. Und sobald sich die Tür öffnen ließ, gab sie ihr einen Stoß, sodass sie geräuschlos aufschwang.

      Sie entdeckte den Mann augenblicklich. Sein Körper bewegte sich vor ihr im Halbdunkel des Arbeitszimmers ebenfalls wie in Zeitlupe.

      »Du bist ja doch zu Hause, Papa«, sagte sie.

      Dann setzte die Erinnerung ein, als hätte sie schon die ganze Zeit am Rand ihres Bewusstseins auf diesen Augenblick gewartet. Sie ließ das Mädchen mit schockierender Klarheit erkennen, was sie in Wahrheit vor sich hatte.

      Sie schrie noch gellender als zuvor die Stimme in ihrem Kopf. Und sie hatte nicht vor, jemals wieder damit aufzuhören.

      II

      Sie setzte sich ruckartig im Bett auf und atmete schwer.

      Im ersten Moment wusste Anja nicht, wo sie sich befand. Sie befürchtete, sie wäre noch immer in dem schrecklichen Albtraum gefangen. Dann erkannte sie im schwachen Mondlicht, das durchs Fenster fiel, dass sie sich im Schlafzimmer ihrer Wohnung befand und nicht in ihrem Elternhaus. Und sie war auch kein elfjähriges Mädchen mehr, sondern eine vierunddreißigjährige Frau.

      Sie hob die Hände, die noch immer zitterten, und wischte sich damit über das Gesicht. Es war schweißnass; ebenso wie ihr restlicher Körper. Der Schlüpfer und das übergroße T-Shirt, die sie trug, klebten an ihr. Es fühlte sich unangenehm an. Allerdings war sie mittlerweile daran gewöhnt. Sie hatte diesen Albtraum in unberechenbarer Unregelmäßigkeit seit dreiundzwanzig Jahren. Dennoch war sie hinterher jedes Mal aufs Neue bis ins Mark erschüttert, nachdem sie ihr traumatischstes Kindheitserlebnis erneut so wirklichkeitsnah miterlebt hatte.

      Ihr Herzschlag und ihre Atmung beruhigten sich allmählich. Gleichzeitig kühlte sich der Schweiß auf ihrer Haut ab und ließ sie frösteln. Sie machte das Licht an und sah auf die Uhr. Es war erst halb sechs. Dennoch wusste sie, dass sie an diesem Morgen keinen Schlaf mehr finden würde. Abgesehen davon musste sie sich etwas anderes anziehen. Also stand sie auf, tappte mit nackten Füßen ins Bad und machte auch dort Licht.

      »Wer zum Teufel bist du denn?«, fragte sie ihr Spiegelbild. Mit dem zerknautschten, geröteten Gesicht, dem müden Blick und den teils abstehenden, teils angeklatschten Haaren hatte es nur wenig Ähnlichkeit mit ihrem üblichen Äußeren.

      Anja starrte ihr Ebenbild für ein paar Sekunden mürrisch an, bis sie sich allmählich darin wiedererkannte. Auch wenn ihr noch immer nicht gefiel, was sie sah.

      Sie drehte den Hahn auf und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Dann trank sie etwas davon aus der hohlen Hand, weil ihr Mund sich wie in ihrem Traum völlig ausgetrocknet anfühlte. Sie hätte in diesem Moment liebend gern etwas Stärkeres getrunken, ein Glas Wodka zum Beispiel. Doch das kam natürlich nicht infrage.

      Anja hatte keine Ahnung, was sie mehr hasste. Den ständig wiederkehrenden Albtraum, der einem Kindheitserlebnis entsprungen war, das sie am liebsten längst vergessen hätte. Oder die Zeit unmittelbar danach, wenn sie den Lockruf besonders intensiv spürte.

      Der Lockruf des Abgrunds jenseits des Todes!

      Sie wusste nicht, wie sie es sonst nennen sollte. Anja stellte sich vor, dass auf der anderen Seite des Todes ein finsterer, bodenloser Abgrund gähnte. Dieser Abgrund lockte sie seit Langem; manchmal stärker und manchmal schwächer. Doch nie so spürbar wie in den Momenten, nachdem sie davon geträumt hatte, sie wäre wieder elf Jahre alt und allein in ihrem Elternhaus. Dann war der Sirenengesang so intensiv, dass sie ihm kaum widerstehen konnte.

      Und wie immer, wenn das der Fall war, öffnete sie auch jetzt den Spiegelschrank und nahm die Schachtel mit den Schlaftabletten heraus. Ihr Hausarzt hatte sie ihr verschrieben, als sie eine Weile unter Schlaflosigkeit gelitten hatte. Sie hatte die Tabletten aber nicht benutzt. Stattdessen hatte sie versucht, ihre Eheprobleme, die eigentliche Ursache der Schlaflosigkeit, im Alkohol zu ertränken. Allerdings war ihr das nicht gelungen. Und seitdem ihre Ehe endgültig gescheitert war, war auch der Lockruf des Abgrunds jenseits des Todes stärker geworden. Deshalb bewahrte sie die Tabletten weiterhin auf. Um sie irgendwann vielleicht sogar zu benutzen, wenn der Sirenengesang schließlich übermächtig wurde und sie keinen Sinn mehr darin sah, ihm weiterhin zu widerstehen und ihr Leben fortzusetzen.

      Anja starrte die Tablettenschachtel lange an und drehte sie dabei mehrmals in ihren Händen. Sie trank mittlerweile keinen Alkohol mehr, bewahrte jedoch im Küchenschrank eine Flasche Wodka auf. Einerseits, um damit ihre Willensstärke zu testen. Andererseits, um mit dem Alkohol die Tabletten hinunterzuspülen, sollte der Moment, an dem sie ihrem Leben ein Ende setzen würde, jemals kommen.

      Doch auch heute war es noch nicht so weit, das erkannte sie schließlich. Sie würde ihr Rendezvous mit dem Sensenmann erneut auf einen späteren Zeitpunkt verschieben.

      Sie seufzte, zum Teil aus Erleichterung, zum Teil aber auch vor Enttäuschung. Schließlich wusste sie genau, dass sie in wenigen Tagen oder Wochen erneut an dieser Stelle und vor derselben Entscheidung stehen würde. Doch für den Moment hatte sie wieder ein paar Tage oder Wochen gewonnen. Und das war alles, was zählte. Auch wenn sie dabei das Gefühl hatte, sie würde ihr Leben nur schrittweise oder auf Abruf leben. Sie legte die Tabletten rasch in den Spiegelschrank zurück, als hätte sie Angst, sie könnte es sich doch noch anders überlegen, und schloss ihn.

      Ihr Spiegelbild erwiderte ihren Blick mit einem mürrischen Gesichtsausdruck. Es schüttelte den Kopf, als wäre es enttäuscht über ihre feige Entscheidung.

      »Leck mich!«, sagte sie und wandte sich ab.

      Sie entschloss sich, die Zeit, bis sie ins Büro musste, sinnvoll zu nutzen. Wenn sie schon so früh wach war und nicht mehr schlafen konnte, konnte sie genauso gut eine Runde durch den Westpark joggen.

      III

      Ihr Handy klingelte im selben Moment, als sie vom Joggen zurückkam und die Tür zu ihrer Wohnung aufschloss. Anja öffnete eilig die Tür, betrat den Wohnungsflur und schloss sie hinter sich wieder. Erst dann holte sie das Smartphone, das ein Lied von Rammstein mit dem Titel »Engel« spielte, aus der Tasche ihrer Jogginghose. Sie warf einen Blick auf die unbekannte Nummer, die im Display angezeigt wurde. Allerdings konnte sie nichts damit anfangen. Sie zuckte mit den Schultern, nahm den Anruf entgegen und hob das Gerät ans Ohr.

      »Spangenberg.«

      Sie musterte sich im Spiegel, der neben der Garderobe an der Wand hing, und begegnete dem kritischen Blick ihrer grünen Augen. Ihr herzförmiges Gesicht mit den hohen, markanten Wangenknochen und der schmalen, geraden Nase war gerötet und verschwitzt. Aber das war normal, nachdem sie wie fast an jedem Tag, an dem kein Unwetter herrschte oder Schneesturm tobte, durch den Westpark gelaufen war. Obwohl das Zwielicht im Flur ihrem Äußeren schmeichelte und die eine oder andere Unzulänglichkeit kaschierte, war Anja nicht unzufrieden mit ihrem Äußeren. Sie hätte es beileibe schlechter treffen können. Lediglich ihr Mund gefiel ihr

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