Der Zorn der Hexe. Lars Burkart
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Der Zorn der Hexe - Lars Burkart страница 26
Warum ihr Vater sie nicht weggegeben hatte, gab ihr immer noch zu denken. Lag es wirklich nur daran, dass er nach dem plötzlichen Tod seiner Frau allein gewesen war? Oder gab es noch einen anderen Grund? Und wenn ja, welchen? Gewiss hatte es auch damit zu tun, dass er zu diesem Zeitpunkt geglaubt hatte, es sei egal, ob die Kinder bei ihm waren oder nicht; der Fluch würde sie ohnehin finden. Aber das war es bestimmt nicht nur allein. Nein, da war noch mehr. Mehr, als sie jetzt ahnte. Und darum musste sie noch einmal in den Keller. Auch, wenn sie es nicht wollte und am liebsten keinen Fuß mehr dorthin gesetzt hätte.
Nach mehr als drei Stunden intensiver Suche gab sie auf. Sie hatte nichts gefunden und war fix und fertig. Die Kopfschmerzen hatten zugenommen und hämmerten jetzt nicht mehr nur wie ein Dieselaggregat, sondern dröhnten und kreischten wie ein Bataillon Panzer. Und auch ihre Muskeln wollten nicht mehr. Sie fühlten sich an, als hätte sie einen Marathon hinter sich und bräuchte unbedingt ein paar Tage frei. Ihre Glieder zitterten vor Erschöpfung, und ihre Augen fielen schon fast von allein zu. Es war wirklich besser, wenn sie sich ein bisschen ausruhte. Sie konnte ja immer noch…
Genau, das konnte sie. Sie würde nur ein wenig ruhen, aber sie würde die Suche nicht aufgeben. Nur ein paar Stunden schlafen, ein bisschen an der Matratze lauschen und dann gestärkt wieder ans Werk gehen. Das würde ihr guttun.
Es blieb aber noch ein Problem. Sie war nämlich so fertig, dass es ihr unmöglich erschien, sich hinauf ins Obergeschoss zu schleppen. Hier unten bleiben wollte sie aber auch nicht. Eher würde sie sich quälen und die zwei Etagen meistern. So hatte sie zumindest gedacht. Doch das Ende vom Liedes sah anders aus: Sie schaffte es gerade einmal, sich aus dem Keller zu schleppen und bis in die Stube. Dann versiegte ihre Kraft. Doch wenigstens hatte sie es bis hierher geschafft und schlief nicht im dunklen Keller. Nicht, dass sie Angst hatte, es war eher ein beklemmendes Gefühl, wenn sie dort unten war. Sie war schon früher nicht allzu gern dort unten gewesen, aber seit ihr Vater dort unten gestorben war, hatte sie noch weniger das Verlangen, dort zu sein.
Bis zum Schlafzimmer fehlte ihr eine Treppe, das war eine Etage höher, aber man musste nehmen, was man bekam. So ziemlich alles war besser, als in der Dunkelheit zu liegen, die eigene Hand nicht vor Augen zu sehen und nicht zu wissen, was in der Finsternis kreuchte und fleuchte. Dann schon lieber die Couch hier in der Stube. Hier riskierte sie wenigstens nicht, dass sie wach wurde, weil irgendetwas über ihre Hand kroch, oder schlimmer noch, etwas Glitschiges nach ihr griff …
Kurz bevor Sabine einschlief, sinnierte sie, warum sie eigentlich im Keller gewesen war. Sie hatte es vor lauter Müdigkeit vergessen. Es war wichtig gewesen. Vielleicht aber auch nicht. Momentan war es ihr gleichgültig. Denn noch ehe sie diesen Gedanken weiterführen konnte, war sie auch schon eingeschlafen. Und ebenso schnell, wie sie eingeschlafen war, begann sie zu träumen.
Und sie träumte …
Sie lief durch dichten Wald. Der Weg war schmal und von Unkraut überwuchert. Er war fast nicht auszumachen. Das einzige, was ihn kennzeichnete, war der Umstand, dass hier keine Bäume wuchsen. Und auch die kamen ihr seltsam vor. Sie standen so dicht beieinander und waren so artenreich, wie sie es noch nie gesehen hatte: Da stand eine Buche neben einer Kiefer, eine Eiche wuchs im Schatten einer Fichte, und eine Tanne erhob sich neben einer Birke. In dem Wald herrschte einfach keine Ordnung. Und doch sah es aus, als sollte alles so sein, als hätte alles seine Richtigkeit. Vielleicht ja gerade, weil hier alles scheinbar aufs Geratewohl spross. Auch der Waldboden sah eigenartig aus. Da gab es Jungwuchs, der im Schutz der Bäume wucherte, Moos schimmerte an den mächtigen Stämmen, und Farne rankten sich wild an ihnen empor.
Sabine blieb einen Moment stehen und lauschte in den Wald hinein. Irgendwie kam er ihr befremdlich vor, gleichzeitig aber so, dass er ganz genauso aussehen musste. So und nicht anders. Geräusche schwappten ihr wie eine Welle entgegen: Unterholz knackte, Vögel zwitscherten, Spechte klopften. Und wie es neben und vor ihren Füßen raschelte!
Es war wunderbar. Und diese Luft. Ein Hochgenuss. Es machte Freude, sie einzuatmen.
Sabine setzte sich in Bewegung, während die Sonne ihr ins Gesicht schien und der leise Wind mit ihrem Haar spielte. Es war angenehm, hier zu wandern. Auch wenn sie gar nicht wusste, wo sie war. Doch das war egal. Warum sollte sie es wissen? Warum? Was änderte das?
Sie schlenderte den zugewucherten Weg entlang, und plötzlich hörte sie Stimmen. Sie drangen aus dem Nichts. Eben noch hatte sie nur die Geräusche des Waldes gehört, und jetzt kamen Stimmen dazu. Sie waren laut, so laut, dass sie die des Waldes verdrängten.
Erst jetzt bemerkte sie, dass sie stehen geblieben war. Aber nicht nur das, nein, sie machte ihren Hals lang und reckte ihren Kopf in die Höhe. Das überraschte und belustigte sie. Sabine hatte nicht mit Menschen gerechnet. Sie hatte geglaubt, dieses Paradies gehöre ihr allein. Na, da hatte sie sich offenbar getäuscht …
Sie lief weiter in Richtung der Stimmen. Sie waren ganz nah, mussten hinter der nächsten Anhöhe sein, die sich kaum zwanzig Schritte vor ihr erhob und gerade hoch genug war, um nicht drüber gucken zu können. Sie ging ohne Scheu auf sie zu und verringerte ihr Tempo. Sie tat es unbewusst, als hätten ihre Beine einen eigenen Willen. Ihre Schritte wurden langsamer und langsamer und setzten schließlich sogar aus. Also, das ist ja … da wird ja der Hund in der Pfanne verrückt! Sabine war überrascht. Warum taten ihre Beine nicht, was sie sollten?
Und dann taten sie es doch. Sie liefen weiter, aber nicht so, wie Sabine es gewollt hatte. Sie führten sie vom Weg hinunter, in den Wald hinein. Was sollte das nun wieder? Nun begannen sie auch noch zu rennen, und Sabine konnte nichts tun, als zu parieren. Was ging hier vor? Sie rannte ungefähr dreißig, vierzig Schritte in den Wald, blieb kurz stehen, sah sich um, rannte noch einmal ein paar Schritte, scheinbar aufs Geratewohl, in irgendeine Richtung und warf sich in eine Senke. Also wirklich, nun war es aber genug!
Dummerweise blieb ihr nichts anderes übrig. Sie lag jetzt hier in dieser Senke, in die sie spektakulär gesprungen war wie eine Stuntwoman. Die Sache war oscarreif: mit dem Kopf voran, todesmutig, ohne auch nur zu wissen, wie tief sie war oder ob etwas Gefährliches darin lag, ein spitzer Ast etwa, der aus dem Boden lugte und sie aufspießen konnte wie ein Speer ...
Ihr wurde immer mulmiger zumute. Was ging hier vor? Warum sauste sie wie ein Wirbelwind durch den Wald und warf sich todesmutig in ein Loch, das sie gar nicht kannte?
Da plötzlich dämmerte es ihr: Sie wollte von den Besitzern der Stimmen nicht gesehen werden. Das war der einzige plausible Grund. Aber warum? Sie wusste doch weder, wer sie waren noch, wohin sie wollten. Bis eben noch hatte sie geglaubt, allein hier zu sein. Wo auch immer dieses „hier“ sein mochte. Ja, verdammt noch mal, sie wusste noch nicht einmal das!
Na schön, na schön. Sie flüchtete also wie die Beute vor seinem Jäger. Und da ihr nichts anderes übrig blieb, würde sie damit irgendwie leben. Es sprach aber bestimmt nichts dagegen, mal einen Blick zu riskieren, oder? Neugier ist schließlich eine Tugend, und was das anging, war sie die Tugend in Person!
Sie robbte etwas nach vorn, nicht viel, nur so weit, um aus der Senke spähen zu können.
Da kamen die Besitzer der Stimmen auch schon über die Anhöhe. Es waren vier Frauen. Das überraschte Sabine; schließlich hatten die Stimmen sehr markant geklungen, eigentlich mehr wie die von Männern. Und noch etwas überraschte sie: Es waren die Kleider, die sie