Der Zorn der Hexe. Lars Burkart
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Читать онлайн книгу Der Zorn der Hexe - Lars Burkart страница 25
Wahrscheinlich nicht. Trotzdem musste sie etwas tun. Es war ihr Bruder, verdammt, nicht irgendein Familienmitglied, nein, ihr leiblicher Bruder. Sie hatten ein und dieselbe Mutter, und wenn die keine Dummheiten gemacht hatte, auch den gleichen Vater …
Sabines Kopf brummte wie ein Dieselgenerator. Wie oft hatte sie sich nun schon die Frage nach der Richtigkeit ihres Vorhabens gestellt? Wie oft? Und noch immer war sie zu keinem Entschluss gekommen.
Sie hielt das Stück Papier, das sie gestern in Eile geschrieben hatte, in den Händen wie eine vollgeschissene Windel, mit den Fingerspitzen, ein Stück vom Körper entfernt. Dennoch musste sie es in der Hand halten. Und sie musste es lesen, immer und immer wieder. Das Papier war schon völlig zerknittert, es sah inzwischen so ramponiert aus, als sei es durch tausend Hände gewandert. Dabei war es nur einen Tag alt.
Auf dem Zettel hatte sie ein paar interessante Dinge vermerkt. Allerdings war das nicht bewusst geschehen. Oh nein, sie hatte einfach alles aufgeschrieben, was sie in der Chronik gesehen hatte. Um es dann, zuhause, in sich aufzunehmen.
Dieser Moment war nun gekommen und schon wieder gegangen, und seitdem saß sie reglos auf der Couch, starrte Löcher in die Luft und machte den Eindruck einer geistig verwirrten Frau – zumindest von einer, die in Gedanken so weit von der Realität entfernt ist, dass man sie als durchgeknallt hätte betrachten können.
Doch Sabine war keineswegs durchgeknallt, und sie war auch nicht verwirrt. Sie war nur in sich gekehrt. Und das musste sie auch, schließlich hatte sie über etwas nachzugrübeln, was in seinen Auswirkungen so mächtig war, dass es nicht nur ihr Leben betraf, sondern auch das ihres Bruders und seiner Familie. Er hatte ganz gewiss eine Familie. Schließlich musste der Fluch ja weiterhin Bestand haben …
Das Brummen des Dieselgenerators in ihrem Kopf nahm zu; jetzt klang es wie ein vollgeladener Öltanker, der schwerfällig durch die Wellen der Ozeane pflügt.
Auf diesem Zettel, diesem dreimal verdammten Zettel, stand etwas, das sie gestern nicht registriert hatte. Entweder war sie dafür zu aufgeregt gewesen oder (das war das Wahrscheinlichste) oder sie hatte es einfach verdrängt, weil es zu viel für sie geworden war. Was es auch gewesen war: Es hatte einen Zweck erfüllt. Hätte sie es gestern schon gemerkt, hätte sie nicht gewusst, wie sie damit umgehen sollte. Vielleicht wäre sie so überwältigt gewesen, dass sie schreiend durchs Haus gestürmt wäre.
Alles in allem war es gar nicht so viel, was da noch auf dem Zettel stand, nur ein Datum und die Adresse eines Kinderheims.
Diese Adresse war es, die ihr zu schaffen machte. Sie führte ihr nämlich etwas vor Augen: Alles, was sie in den letzten Tagen erlebt, an Eindrücke gesammelt, gedacht und gefühlt hatte, war real. Und alles lief auf eine bestimmte Sache hinaus. Nämlich, dass ihre Familie schon lange, schon sehr, sehr lange unter dem Fluch litt. Und dass sie, Sabine, leider nicht die erste war, die etwas dagegen zu unternehmen versuchte. Alles deutete darauf hin, dass auch ihre Eltern dagegen zu kämpfen versucht hatten. Warum sonst hätten sie ihren erstgeborenen Sohn weggegeben? Nur weil sie sich erhofften, ihn so in Sicherheit zu wissen!
Aber leider (und das hatte ihr Vater schließlich einsehen müssen) ließ der Fluch sich nicht so einfach austricksen. Das bewiesen die Lebensläufe der anderen. Sie verstreuten sich über den halben Erdball, hinterließen Spuren auf jedem Kontinent. Und das taten sie gewiss nur, um dem Fluch zu entkommen. Wahrscheinlich glaubte jeder, so wie auch Sabine, ausgerechnet er könne etwas dagegen unternehmen, das Verhängnis endlich beenden. Doch dem war nicht so, wie die Familienchronik bewies. Egal, wohin sie auch verschwanden, wohin sie auswanderten oder wie viele Meilen sie zwischen sich und ihren Geburtsort brachten: Am Ende war es immer der Fluch, der triumphierte.
Genau das machte ihr Angst. Bislang hatte sie geglaubt, sie sei die erste, die etwas dagegen tun wollte. Aber so wie es jetzt aussah, schien es, als sei der Kampf gegen den Fluch ebenso alt wie der Fluch selbst. Das aber war nicht das eigentlich Schlimme. Nein, das wirklich Entsetzliche war, dass sie nie auch nur den Hauch einer Chance gehabt hatten. Sollte es tatsächlich so sein, dass es absolut nichts gab, was man unternehmen konnte? War alles immer schon zum Scheitern verurteilt?
Jeder andere hätte an dieser Stelle aufgegeben. Warum kämpfen, wenn man ohnehin verlor? Aber Sabine nicht. Sie war eine Kämpferin. Sie versuchte es selbst dann noch, wenn der Kampf längst verloren schien. Darum nagte diese Erkenntnis zwar an ihr, aber sie schaffte es nicht, sie von ihrem Vorhaben abzubringen.
Zu dem Datum stand nichts weiter. Aber sie vermutete, dass es entweder das Datum der Geburt ihres Bruders war oder der Tag, an dem er in das Kinderheim gebracht worden war. Egal, was es war: Es war auf jeden Fall eine heiße Spur.
Sabine kannte die Adresse inzwischen auswendig. Vor ihrem inneren Auge sah sie das Heim. Zumindest malte sie sich aus, wie es aussehen mochte. Und zwar sollte es ein riesiges Schloss sein, mit zwei gigantischen Türmen, hoch in den Himmel ragend. Der Eingang war ein gewaltiges Tor, bewacht von einer Zugbrücke, die in der Nacht hochgezogen wurde, ein breiter Graben umgab das Schloss, und es lag in einem Wald, wo die Kinder spielten …
Doch dann ließ sie von diesem Bild, dieser Vision ab. Sie merkte, dass sie alles andere als realistisch war. In Wirklichkeit sah kein Kinderheim so aus. Im Gegenteil, es war eher wahrscheinlich, dass es eine sterile Kaserne war, mit Gittern vor den Fenstern und strengen Erziehern, die keinen Spaß an ihrer Arbeit hatten. Wenn sie es so sah, mochte ihr Bruder alles andere als eine Bilderbuchkindheit gehabt haben. Zumindest keine, um die sie ihn beneidete. Da stellte sich ihr noch eine Frage: Wie würde er es aufnehmen, dass sie, Sabine, so plötzlich aus dem Nichts erschien? Wie würde er reagieren, wenn sie ihm eröffnete, dass er zwar in einem Waisenhaus gelebt hatte, er aber keineswegs eine Waise gewesen war? Dass seine leiblichen Eltern sogar recht wohlhabend gewesen waren? Er hätte es gut haben können. Stattdessen hatte er seine Kindheit in einem Heim verbringen müssen, ohne Eltern, ohne Geschwister. Bestimmt würde er sich fragen, warum.
Da plötzlich tauchte in ihrem Denken noch etwas auf. Und dieses Etwas war hochinteressant. Es war die Frage, warum ihre Eltern sie, Sabine, nicht weggegeben hatten. Warum hatte ihr Vater sie unbeirrt großgezogen? Und nur zwei Jahre zuvor seinen einzigen Sohn weggegeben? Was hatte sich in dieser Zeit verändert? Was war anders geworden? Warum hatte er …?
Da beantwortete diese Frage sich von selbst. Es hatte sich tatsächlich etwas verändert. Etwas Verheerendes. Ihre Mutter, Jennifer, war gestorben. Sie war überraschend von ihm gegangen, und da hatte er nicht mehr weitergewusst. Gewiss war er verzweifelt gewesen. Und um nicht ganz allein zu sein, hatte er sie, seine Tochter, behalten. Vielleicht hatte er Angst gehabt, allein zu sein. Vielleicht hat er auch nur eingesehen, dass es egal war, ob sie woanders war oder bei ihm, weil am Ende der Fluch ohnehin siegte. Und da wollte er sie doch lieber bei sich wissen, als irgendwo ganz auf sich allein gestellt …
Doch noch einmal zurück zu der Frage, wie ihr Bruder dieses Wissen aufnehmen würde. Das konnte sie nicht mit Bestimmtheit sagen. Was sie aber wusste, war, dass sie es ihm unbedingt sagen musste. Falls er es nicht schon wusste … Die ganzen Wenns und Abers machten sie verrückt! Sei’s drum: Es gab wirklich Schlimmeres als so einen richtig schönen, hausgemachten Gehirndünnschiss, nicht wahr? Au ja, nämlich genau das, worin sie gerade steckte.
Sie nahm ihren Blick zum ersten Mal seit Stunden von dem Papier, und ihr wurde schwummerig vor Augen. Doch das legte sich schnell wieder, und nun sah sie aus dem Fenster. Der Wolkenbruch hatte auf den Scheiben Schlieren hinterlassen, doch die waren ihr egal. Wäre alles noch beim Alten, wie noch vor einigen Wochen, hätte sie jetzt wahrscheinlich die Fenster geputzt. Aber da das nun einmal nicht der Fall war, waren schmutzige Fenster nicht mehr wichtig.
Endlich erhob sie sich, allerdings schwerfällig