Der Zorn der Hexe. Lars Burkart

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Der Zorn der Hexe - Lars Burkart

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Absolut nichts deutete darauf hin, dass sie noch einen Bruder oder eine Schwester gehabt hatte. Aus den Unterlagen war ersichtlich, dass ihre Eltern, also Sabines Großeltern, nur ein Kind gehabten hatten. Nämlich Jennifer.

      Da hatte Sabine schon aufgeben wollen. Doch sie blätterte noch einmal durch den ganzen Ordner, und endlich entdeckte sie die Wahrheit, die sie übersehen hatte. Bis jetzt hatte sie immer schnell geblättert, und da sie sich dabei auch noch auf die Daten ihrer Mutter konzentriert hatte, hatte sie das wirklich Interessante übersehen. Aber jetzt brannte es sich in ihre Augen. Sie starrte das Blatt an und wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.

      Auf diesem Dokument stand, dass sie, Sabine, einen Bruder hatte. Ihre Mutter war ein Einzelkind gewesen, zumindest deutete nichts auf etwas anderes hin. Aber sie selbst war es nicht. Sabine hatte einen Bruder. Und wie sie den Daten entnehmen konnte, war er knapp zwei Jahre älter als sie selbst.

      Ihren Zustand mit einem Schock zu beschreiben wäre die Untertreibung des Jahrhunderts. Sie schlotterte am ganzen Leib und konnte einfach nicht glauben, was sie las. Sie, Sabine, sollte einen Bruder haben? Sie sollte tatsächlich einen Bruder haben?

      An das, was dann geschah, konnte sie sich später nur noch bruchstückhaft erinnern. Sie kramte mit zittrigen Händen in ihrer Handtasche nach einem Stift und einem Stück Papier, schrieb den Namen und das, was sonst noch über ihn stand, hastig ab mit Kritzelschrift, stand auf (wobei der Stuhl quietschend über den Boden rutschte) und stürmte aus dem Raum.

      Draußen, auf dem Korridor, schien sie regelrecht zu schweben. Sie schwebte wie eine Feder im Wind auf den Fahrstuhl zu, und dann stand sie plötzlich wieder an der Rezeption, wo die freundliche alte Dame ihr etwas zurief, was sie nicht verstand. Sie hob wie zum Abschied die Hand, und dann war sie auch schon draußen, vor der Tür.

      Der Regen musste noch zugenommen haben, denn er schmetterte die Tropfen mit brachialer Gewalt in ihr Gesicht. Der Wind hätte sie fast umgeworfen. Ja, einen Moment war sie drauf und dran, das Gleichgewicht zu verlieren, zu stürzen. Sie schwankte wie ein betrunkener Seemann auf Landgang.

      Doch dann war sie plötzlich an ihrem Auto und saß schon darin. Alles kam ihr vor wie ein Traum. Die Zeit schien wie im Zeitraffer zu laufen: Eben noch war sie dort gewesen, und gleich darauf schon wieder anderswo, ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen war. Einen Moment dachte sie, sie müsste gleich schreien und im nächsten, sie müsste sich totlachen. Endlich fragte sie sich, warum sie eigentlich so durch den Wind war. Sie hatte gefunden, wonach sie gesucht hatte. Zugegeben: Das, was sie gefunden hatte, wich von dem, was sie gesucht hatte, ganz schön ab. Aber, verdammt noch mal, wichtig war nur, dass sie eine Spur hatte. Es hätte auch ganz anders kommen können. Dann wäre sie genauso schlau gewesen wie vorher. Wäre das wirklich so toll gewesen?

      Doch sich selbst solche Dinge zu fragen, war in etwa so, als versuche sie, einer Türklinke die Relativitätstheorie zu erklären. Sie begriff einfach nichts und dachte noch weniger. Ihr Kopf war wie leergepustet, wie ein Kürbis, dem man zu Halloween das Fleisch herausgeschabt hat und der nur noch eine Maske ist.

      So vieles hatte sich verändert. Sie war kein Einzelkind mehr, sie hatte jetzt einen Bruder. Einen älteren Bruder. Sie hatte …

      Sie hatte eine Aufgabe, verdammt noch mal. Eben weil sie einen Bruder hatte.

      Nervös huschte ihre Hand in die Handtasche. Einen Moment glaubte sie, den Zettel verloren zu haben. Doch er war noch darin. Er raschelte zwischen ihren Fingern.

      Der Regen prasselte gegen die Scheiben und auf das Dach, und hier drinnen klang es, als feuerte ein Maschinengewehr. Es platschte und knatterte. Allmählich beschlugen die Scheiben. Sabine konnte schon jetzt kaum noch etwas sehen.

      Sie startete den Motor, schaltete die Klimaanlage an und blieb noch ein paar Minuten stehen. Der Motor brummte im Leerlauf, und mit der Zeit wurden die Scheiben frei. Trotzdem fuhr sie noch nicht los. Sie musste erst einen freien Kopf bekommen.

      8. Kapitel

       8. Kapitel

      Der Regen wollte den ganzen Tag über nicht nachlassen und hielt an bis in die Nacht. Aber noch ehe der Morgen graute, ließ er nach, und gegen zehn schien die Sonne. Sie hatte es zwar anfangs noch schwer, sich gegen die schwarzen Wolken zu behaupten, aber je mehr Zeit verstrich, umso intensiver strahlte sie. Gegen Nachmittag, wenn es schon auf den Abend zugehen würde, würde vielleicht gar keine Wolke mehr am Himmel hängen. Doch das war Zukunftsmusik.

      Für Sabine war das Wetter unwichtig. Es interessierte sie nicht im Mindesten. Sie hatte Wichtigeres im Sinn.

      Da war zum einen die Sache mit ihrem Bruder. Bis gestern hatte sie nicht einmal etwas geahnt von seiner Existenz, und nun zerbrach sie sich den Kopf darüber, wie sie ihn finden konnte. Zum anderen wusste sie plötzlich nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sollte sie ihren Bruder überhaupt aufsuchen? Oder war es vielleicht doch besser, sie ließ ihn sein Leben leben, ohne sich einzumischen? Auch, wenn das vielleicht hieß …

      Na und? Passieren wird es ohnehin! Ob er es nun weiß oder nicht. Hast du dir schon mal überlegt, dass Unwissenheit vielleicht gar nicht so schlecht ist? Dass es vielleicht ganz gut ist, wenn es einen aus heiterem Himmel trifft? Was ich meine, ist Folgendes: Du setzt alles daran, ihn zu finden und ihn über diesen vermaledeiten Familienfluch aufzuklären. Dabei ist es vielleicht viel besser, er weiß davon gar nichts. Schicksalsschläge geschehen schließlich immer wieder, auch ohne Fluch: Unfälle ereignen sich, Krankheiten brechen aus, nahe Menschen sterben überraschend und, und, und. Verstehst du, was ich meine? Du bist so überzeugt davon, das Richtige zu tun, dass du vollkommen übersiehst, was Wahrheit bedeutet! Was sie heißt. Was sie verändert. Und vor allem, und das ist wohl das Wichtigste, wie sie schmerzt!

      All dies geisterte Sabine im Kopf herum, und es klang alles ziemlich überzeugend. Sie, Sabine, hatte die Wahrheit unbedingt wissen wollen. Doch das hieß noch lange nicht, dass es bei ihrem Bruder auch so war. Vielleicht war er ja ganz anders gestrickt? Vielleicht wollte er von alldem gar nichts wissen und in aller Ruhe sein Leben weiterleben? Schließlich bestand diese Möglichkeit durchaus. Sie kannte ihren Bruder nicht. Vielleicht war er anders als sie. Vielleicht …

      Verdammt, Sabine. Dieses ganze Gerede, vielleicht und wenn und aber … es hält dich nur ab und bringt dich nicht weiter! Triff eine Entscheidung! Aber überlege gut! Es kann schon begonnen haben. Dann bist du die einzige, die darüber Bescheid weiß!

      Sie machte es sich nicht leicht. Sie dachte über alles nach und wog alles gegeneinander ab. Um ein Haar war sie drauf und dran, ihren Bruder sein Leben einfach leben zu lassen. Sie war kurz davor, die Sache zu vergessen und sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Was sie davon abhielt, war ein einziger Gedanke. Oder vielmehr eine Frage: Hatte er Kinder?

      Bei dieser Vorstellung schauderte sie. Wenn dem so war, sah die Sache anders aus. Kinder waren unschuldig. Sie waren noch klein, sie sollten etwas vom Leben haben. Und, rein vom Logischen her, musste er Kinder haben. Schließlich musste, so makaber es auch klingen mochte, der Fluch fortgesetzt werden. Sie, Sabine, hatte keine. Blieb also nur er.

      Schön und gut. Sabine hatte sich also insofern mit sich selbst geeinigt, dass sie etwas unternehmen musste. Blieb noch immer die Frage, wie dieses „etwas“ aussehen sollte. Was das anging, hatte sie keinen blassen Schimmer. Sie tappte im Dunkeln. Und wie es schien, würde das noch ein Weilchen so bleiben.

      Sie saß nun schon seit längerem auf der Couch, hatte die Füße an sich gezogen, die Hände umfassten ihre Füße und hielten sie fest, die Knie waren nah bei ihrem Gesicht. So saß sie einfach nur da, ohne etwas

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