DER WIDERSACHER. Eberhard Weidner

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DER WIDERSACHER - Eberhard Weidner Anja Spangenberg

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finden, aber nicht völlig unmöglich. Doch Doris betrachtete es als Therapie, sich ihrer Angst zu stellen, auch wenn diese Therapie in ihrem Fall bislang kaum angeschlagen hatte.

      Erst als die Fahrstuhlkabine im Schacht hinter ihr ruckelnd zum Stillstand kam und sich die Tür öffnete, wandte sie sich um. Sie wollte den Aufzug rasch betreten und unverzüglich den Schalter für ihr Stockwerk drücken. Wenn sich die Tür dann endlich schloss, wäre sie endgültig in Sicherheit und könnte damit beginnen, sich zu entspannen.

      Doch noch ehe Doris sich in Bewegung setzen konnte, trat jemand aus der Kabine und ihr entgegen.

      Doris stieß vor Schreck einen Schrei aus. Sie ließ die beiden Tüten mit ihren Einkäufen sowie ihre Handtasche fallen. Dann fasste sie sich mit beiden Händen an die Brust, weil sie befürchtete, diesmal den tödlichen Herzinfarkt zu bekommen, mit dem sie schon damals gerechnet hatte, als das Licht ausgegangen war. Gleichzeitig schalt sie sich selbst für ihre Dummheit, denn zweifellos war es nur einer der anderen Hausbewohner, der zu seinem Wagen wollte und über die unerwartete Begegnung nun ebenso erschrocken wie sie war.

      Die Einkaufstüten prallten mit einem dumpfen Laut rechts und links von ihr auf den Boden. Etwas Gläsernes in ihrem Innern zerbrach mit einem lauten Klirren, worüber Doris sich trotz ihres Schrecks unwillkürlich ärgerte.

      Doch ihr Ärger verflog augenblicklich, als ihr Blick auf ihr Gegenüber fiel. Erstens erkannte sie in ihm keinen der anderen Hausbewohner wieder, die sie fast alle persönlich kannte, wenn auch nur von kurzen Begegnungen im Treppenhaus oder von den jährlichen Eigentümerversammlungen. Zweitens machte er keinen erschrockenen, sondern einen eher zielgerichteten Eindruck. Und drittens sah er darüber hinaus auch noch extrem merkwürdig aus.

      Er war groß und überragte sie um mehr als einen ganzen Kopf, wirkte aber noch deutlich größer, weil er beinahe skelettartig dünn war. Der Eindruck eines lebenden Toten, den er bei seinen Mitmenschen unwillkürlich erwecken musste, wurde durch den Rest seiner Erscheinung noch verstärkt. So hatte er unter anderem das fahle Äußere eines blutleeren Leichnams und extrem kurz geschnittenes weißblondes, fast durchscheinend wirkendes Haar, durch das seine geäderte Kopfhaut zu sehen war. Seine grauen, leblos erscheinenden Augen lagen tief in den dunkel umrandeten Höhlen seines an einen Totenschädel erinnernden Kopfes. Darüber hinaus verströmte er einen unangenehmen Geruch, der sie unwillkürlich an Beerdigungen denken ließ. Er war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, was seine Gesichtshaut noch bleicher wirken ließ, und trug schwarze enganliegende Lederhandschuhe.

      In dem kurzen Augenblick, den Doris benötigt hatte, um all diese Einzelheiten in sich aufzunehmen, hatte der unheimliche Mann sie bereits erreicht. Und bevor sie in irgendeiner Form darauf reagieren konnte, prallte er gegen sie und stieß sie mit beiden Händen kräftig zu Boden. Sie schrie ein weiteres Mal, doch der Schrei endete wie abgeschnitten, als ihr Hinterkopf heftig und schmerzhaft auf den Betonboden prallte, sodass sie für einen kurzen Moment das Bewusstsein verlor. Sie erlangte es zwar sofort wieder, war jedoch leicht benommen und stöhnte leise.

      Der Angreifer gönnte ihr allerdings keine Atempause. Er setzte sich rittlings auf ihren Brustkorb, sodass er mit den Unterschenkeln ihre Arme gegen den Boden pressen konnte.

      Als die Benommenheit endlich wich und Doris realisierte, dass ihre irrationale Angst plötzlich Wirklichkeit geworden war, begann sie, sich panisch zur Wehr zu setzen. Ihre eingeklemmten Arme waren nutzlos, deshalb wand sie sich wie eine Schlange, um den Mann abzuwerfen. Doch obwohl er erschreckend mager war und nur wenig mehr als sie wiegen mochte, lastete er wie ein Tonnengewicht auf ihr und drückte ihren Körper und ihre Arme zu Boden. Sie hob daher die Beine und trommelte mit den Knien gegen seinen Rücken. Doch das schien ihn ebenfalls nicht besonders zu beeindrucken; er verzog lediglich das Gesicht zur Grimasse eines Totenkopfgrinsens und lachte meckernd.

      Aufgrund der Erfolglosigkeit ihrer Bemühungen änderte Doris daraufhin ihre Taktik. Sie riss den Mund weit auf und schrie so laut, wie sie es noch nie in ihrem Leben getan hatte und hoffentlich auch nie wieder tun musste. Womöglich war einer der anderen Hausbewohner zufällig in der Nähe, hörte ihren Schrei und kam ihr zu Hilfe.

      Doch der skelettartige Mann legte ihr blitzschnell die linke Hand auf dem Mund und drückte mit dem Daumen ihren Unterkiefer nach oben, sodass ihr Schrei augenblicklich erstickt wurde und sie ihn nicht beißen konnte. Auch wenn er überhaupt nicht danach aussah, schien er erstaunlich kräftig zu sein, denn obwohl Doris erbittert dagegen ankämpfte, war sie gezwungen, den Mund zu schließen, bis ihre Lippen so fest aufeinandergepresst wurden, dass es schmerzte.

      »Spar dir deinen Atem«, sagte der Mann in einem leisen Flüstern, sodass Doris sich anstrengen musste, um ihn überhaupt zu verstehen. Dann beugte er sich nach vorn und sah sie mit seinen Leichenaugen eindringlich an. »Schließlich brauche ich ihn noch.«

      Obwohl es weder der rechte Ort noch die richtige Zeit dafür war, dachte Doris automatisch über seine rätselhaften Worte nach. Was meint er damit?, fragte sie sich. Worauf unvermittelt die viel bedeutsamere Frage folgte: Und was hat er mit mir vor?

      Sie dachte zunächst an einen Raubüberfall. Immerhin befanden sie sich hier in einem Gebäude mit großzügigen und exklusiven Eigentumswohnungen, in denen vorwiegend wohlhabende Leute wohnten. Außerdem ließ das Äußere des Mannes vermuten, dass er möglicherweise drogenabhängig war und dringend Geld für seinen nächsten Schuss benötigte. Allerdings machte er auf sie überhaupt nicht den Eindruck eines Junkies. Also vermutlich doch kein Raubüberfall.

      Aber was dann?

      Der zweite Gedanke, den sie zunächst verdrängt, der ihr nun aber immer wahrscheinlicher vorkam, war erschreckender: Er will mich vergewaltigen!

      Doris schüttelte den Kopf, so gut es die Hand auf ihrem Mund zuließ, während ihr Tränen in die Augen traten und ihre Sicht verschleierten.

      »Hab keine Angst«, flüsterte er, als könnte er ihre Gedanken lesen. »Alles, was ich von dir will, ist deine Atemluft.«

      Obwohl Doris fürchterliche Angst hatte, runzelte sie ob der Worte des Mannes verwirrt die Stirn, während die Psychiaterin in ihr versuchte, einen Sinn darin zu erkennen und gleichzeitig eine Diagnose zu stellen.

      Was stimmt mit dem Kerl nicht?

      Erneut kam es ihr so vor, als hätte der skelettartige Mann ihre Gedanken gelesen. Aber vermutlich konnte er ihr die Verwirrung an den Augen ablesen oder ihre Körpersprache richtig deuten.

      »Ich bin tot und verwese allmählich«, hauchte er und nickte dann nachdrücklich, als hätte sie ihm widersprochen. »Und um die Verwesung meines Körpers aufzuhalten oder zumindest zu verlangsamen, benötige ich deine Atemluft.«

      Trotz ihrer Angst war Doris in der Lage, sofort eine Diagnose zu stellen. Der Mann litt vermutlich am sogenannten Cotard-Syndrom. Bei diesem Wahn, der im englischen Sprachraum auch Walking Corpse Syndrome genannt wird, ist die betroffene Person davon überzeugt, sie sei tot, existiere nicht, verwese oder habe ihr Blut und ihre inneren Organe verloren. Das Cotard-Syndrom, benannt nach dem französischen Neurologen Jules Cotard, der es als Erster beschrieb, ist häufig eine Folge schwerer Hirnerkrankungen.

      Der Verstand der Psychiaterin lieferte ihr wie ein zuverlässiger Computer weitere Daten zum geschichtlichen Hintergrund, zur Symptomatik, zur Pathophysiologie und zur Behandlung dieses Krankheitsbildes. Allerdings zeigte er ihr keine Möglichkeit, wie ihr dieses Wissen in ihrem gegenwärtigen Zustand helfen sollte. Das frustrierte sie, sodass sie all das theoretische Wissen kurzerhand verwarf und ihre Überlegungen stattdessen darauf konzentrierte, was sie tun sollte.

      Der Wunsch des Mannes nach ihrer Atemluft erschien ihr eher harmlos.

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