Wenn die Seelen Trauer tragen. Rose Hardt
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„Gibt es hier auch eine Treppe?“, fragte sie, „ich würde gerne die Treppe nehmen!“ Denn der eben emporgestiegene Gedanke – mit dem Aufzug in den Hades hinabzufahren – erschauderte sie.
„Ja, gleich neben dem Aufzug rechts! Und bis bald, Goldmündchen“, sagte er mit sichtlicher Freude über ihre Einwilligung.
Nachdem die Haustür hinter ihr ins Schloss gefallen war, legte sie den Kopf in den Nacken, erleichtert atmete sie zuerst einmal die frische und salzige Luft, die vom Meer herüberwehte, tief und bewusst ein. Wieso hatte sie nicht bemerkt, dass er anders ist? Sie schloss ihre Augen und ließ den Abend nochmals Revue passieren. – Nein, sein Verhalten war doch ganz normal! Nichts, aber auch gar nichts war andersartig an ihm und an den gemeinsamen Gesprächen. Nachsinnierend an die beiden Herren schweifte ihr Blick zum Horizont, um sich dann in der Endlosigkeit zu verlieren. Ja, auch wenn sie ihr kleines Wortgeplänkel zwar äußerst anregend fand, so blieben dennoch Zweifel zurück.
Im Laufe des Vormittags beschloss sie dann zur kleinen Felseninsel, nahe der Hafen-Einfahrt von Saint Helier, zu fahren. Auf ihr thronte die Elizabeth Castle, eine der eindrucksvollsten Burgen der Channel Islands, die nur bei Ebbe und mit dem Shuttletransfer zu erreichen war. Während ihrem Besichtigungsausflug zur Insel dachte sie nochmals über Clemens und Jacob nach. Sollte sie sich in Clemens wirklich so getäuscht haben? Jedenfalls vermittelte er nicht den Eindruck anders zu sein, ja, anders – das Wort schwul mochte sie nicht, es ließ keine Ausweichmöglichkeiten mehr zu.
Kurze Zeit später schlenderte sie gedankenverloren hinter der Besuchergruppe durch die Burg, doch irgendwann muss sie wohl die Gruppe, in einen der vielen Räume verloren haben. Sie schlenderte zurück zum Ausgang und sah wie der Shuttletransfer bereits auf der Rückfahrt war – die Flut war hereingebrochen. „Shit! Shit! Shit! Was nun?“, kam es fluchend über ihre Lippen. „Tja, dann wirst du wohl oder übel für einige Stunden hier festsitzen“, seufzte sie. Und so setzte sie sich auf einen Felsvorsprung und ließ die Umgebung erst einmal auf sich einwirken, und wenn sie nun genauer darüber nachdachte, so war es geschenkte Zeit, Zeit um über alles und in aller Ruhe nachzudenken. Oh ja, und die benötigte sie in ihrer jetzigen Situation. Ein schwarzer Rabe war zwischenzeitlich gleich neben ihr auf der Kaimauer gelandet. Langsam breitete er seine Schwingen aus, dann verharrte er in dieser Position. Ganz offensichtlich war es eine Art Drohgebärde, dachte sie. Auch bei den Möwen schien die Hölle los zu sein. Ein großer Schwarm war vom Meer hereingebrochen und besetzte einen großen Teil der Burg; wildes Geschrei und wütendes Geplapper aufeinandertreffender Schnäbel wirkten ebenfalls bedrohlich. Sie dachte mit Entsetzen an Die Vögel von Alfred Hitchcock. Warum nur diese Aufruhr? Ach, mit Sicherheit war Paarungszeit, versuchte sie selbst das Verhalten der Vögel mit einem Lächeln zu erklären. Etwas verunsichert beobachtete sie das Geschehen, im nächsten Moment fiel ihr Blick auf einen ganz in schwarz gekleideten Mann, der vor dem geschlossenen Eingangstor zur Burg stand. War das etwa Jacob? Aber was macht er hier? In langsamen Schritten kam er auf sie zu. Plötzlich, in der Hälfte des Weges, blieb er stehen. Nun konnte sie ihn erkennen. Ja, es war Jacob! Und so unvermittelt wie er stehengeblieben war, setzte er seinen Weg auch wieder fort. Seine Schritte ähnelten nun einem Seiltänzer, seine Arme waren ausgebreitet und der Wind wirbelte seinen schwarzen offenstehenden Mantel angsteinflößend nach hinten. Seine ganze Erscheinung wirkte in ähnlicher Weise wie die Drohgebärde des Rabens. Dann stand er vor ihr. Seine Augen waren noch stärker mit schwarzem Kajal umrandet als am Morgen, seine Haare waren mit Pomade straff nach hinten frisiert und ein seltsames Lächeln lag in seinem totenblassen Gesicht. Ein Anblick der sie erschauderte.
„Ich … ich …“, stotterte er, „ich wollte mich in die Tiefe stürzen, aber ich war zu feige mich dem Tod in die Arme zu werfen.“ Ein krankhaftes Lachen schüttelte seinen Körper bevor er dann zusammenbrach und er bitterlich zu weinen anfing.
Unbeholfen stand Nora vor diesem bedauernswerten Geschöpf das sich nicht mehr der Worte bedienen konnte, sondern nur noch in der Lage war zu weinen. Unfähig etwas zu sagen blickte sie sich erst einmal hilfesuchend um, doch sie waren sie die Einzigen hier. Verzweifelt suchte sie in ihrer Handtasche nach ihrem Handy um Clemens anzurufen – nichts! Immer, wenn man dieses blöde Ding braucht, ist es nicht da, schoss es ihr durch den Kopf. Kurz überlegte sie wie sie ihn trösten könnte, aber wie tröstet man einen Fremden von dem sie nur wusste, dass er anders war und um einen geliebten Menschen trauerte. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend setzte sie sich neben ihn, tröstend legte sie ihren Arm um seinen vor Kummer gebeugten Rücken. Allein schon ihre Berührung war für ihn Anlass genug, Schutz in ihren Armen zu suchen. Erschrocken von dem kalten fremden Körper saß Nora zuerst einmal irritiert und handlungsunfähig da. Großer Gott, was nun? Nach einigen Sekunden fing sie schließlich an, ihn, wie ein schutzbedürftiges Kind, in ihren Armen zu wiegen – irgendwann war er still. Auch sie gab sich, mehr aus Unbeholfenheit als aus Absicht, der Stille hin. Es muss wohl so nach einer Stunde etwa gewesen sein, als er schließlich aus seiner Lethargie erwachte und sich zeitlupenähnlich aus ihren Armen löste. Der von den Tränen aufgelöste Kajal überzog nun schwarz seine Wangen und zeichnete sein Gesicht zu einer furchterregenden Maske – er schien nicht mehr von dieser Welt zu sein! Oh mein Gott, wie deprimierend das auf sie wirkte – auf sie – der sie doch selbst mit einem tragischen Ereignis zu kämpfen hatte. Der Anblick war so unerträglich, dass sie ein Taschentuch hervorziehen musste, um ihn von seinem elenden Aussehen zu befreien. Ganz allmählich fand er wieder in die reale Welt zurück, er richtete sich auf und während sein Blick in die Ferne schweifte, fing er zögerlich und mit gebrochener Stimme zu reden an …
„ER … Stéphan stand auf der Bühne. Im Opernhaus herrschte völlige Ruhe, dann sollte sein Einsatz kommen, aber er schwieg. Das Publikum wurde allmählich unruhig. Ich befand mich hinter dem Vorhang und zischte ihm mehrmals zu, doch er reagierte nicht. Auch die Souffleuse wurde aktiv und tippte ihm mit einem kleinen Stöckchen mehrmals an sein Bein – wieder nichts. Das ganze Ensemble rings um ihn herum war wie erstarrt. Er stand nur da … in seiner imposanten Erscheinung stand Stéphan einfach nur regungslos da. Die Bühnenbeleuchtung war komplett ausgeschaltet, nur ein kleiner Lichtstrahl zielte noch auf ihn. Sein Blick verlor sich irgendwo im dunklen Zuschauerraum. Es herrschte eine eigenartige, ja, fast schon respektvolle Stille, denn alle warteten auf seinen großen Einsatz, warteten auf den letzten Satz, den Satz der das ganze Stück beenden sollte. Dann geschah es, Stéphan drehte sich um, und verließ in langsamen wohlbedachten Schritten die Bühne.“
Entsetzt, als ob er es immer noch nicht begreifen konnte, sah er sie mit großen Augen an.
Nora saß bewegungsunfähig, auch ein wenig verängstigt, weil sie ihn nicht einschätzen konnte, neben ihm und folgte aufmerksam seinen Worten.
„… und noch immer sehe ich ihn mit seinem braunen weiten Gewand, mit dem weißen wallenden Haar über die Bühne schreiten“, fuhr er leise fort, „ein Lichtstrahl folgte ihm bis er hinter dem Bühnenvorhang entschwunden war. Er hatte nur noch einen Satz zu sagen … einen einzigen Satz“, echauffierte er sich kopfschüttelnd, „aber es gelang ihm nicht mehr.“
Für einen Moment hielt er inne, bevor es ihm dann wieder möglich war in seiner Geschichte fortzufahren.
„Dann geschah etwas Eigenartiges, ein Mann aus dem Publikum erhob sich – ein Raunen ging zeitgleich durch das Publikum. Voller Ehrerbietung vor dem großen Schauspieler, sprach dann dieser Mann, seinen letzten Satz, laut und deutlich aus. Danach applaudierte das Publikum – zuerst noch verhalten, doch dann standen die Menschen auf, um mit lautem Applaudieren die künstlerische Darstellung, des großen Schauspielers: Stéphan, zu würdigen. Ja, und noch während dieses Applauses ist Stéphan dann in seiner Garderobe, alleine, verstorben.“
Jacob schwieg, sein Blick vertiefte sich in den herankommenden