Der Fluch von Azincourt Gesamtausgabe. Peter Urban
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Der Fluch von Azincourt Gesamtausgabe - Peter Urban страница 3
Chaulliac trank dankbar einen Schluck des angebotenen Weins, vertrieb die Gedanken an den unheimlichen, dunklen Krieger und schloss die Augen. Er fühlte sich ein wenig wie jener Fischer in dem orientalischen Märchen, der eine Flasche entkorkte und einen Geist herausließ, der um ein Vielfaches stärker war, als er selbst: „Ambrosius“, sagte er leise, „ich habe es wiedergefunden.“
„Dann hat der Orden sich damals also doch geirrt“, erwiderte der Herzog. In seinen Augen funkelte plötzlich so etwas, wie Gier. Selbst die langersehnte Unterstützung und Anerkennung für seinen hart bedrängten Schwiegervater durch den unerbittlichsten Feind der Engländer schien mit einem Mal unwichtig und belanglos geworden zu sein.
Chaulliac genoss sichtlich den kurzen Augenblick der Hochspannung. Sie hatten Zeit, sie waren alleine und niemand drängte sie. Er konnte sich den Luxus gönnen und die ganze Geschichte von Anfang bis Ende zu erzählen. Natürlich würden sie hinterher sehr ernst miteinander beraten müssen. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und stellte seinen Becher zurück ins Gras. „Später“, sagte er zu sich selbst, „später. Jetzt erzähle ihm erst einmal von Meister Nicolas Flamel und der Handschrift.“
„Du hast doch gewiss schon einmal von diesem Notarius des Collegium Sorbonianum gehört, der vor ein paar Jahren über Nacht sagenhaft reich wurde und dann überall in Paris und in Boulogne-sur-Mer Armenhäuser und Spitäler stiftete!“
Ambrosius nickte. Natürlich hatte er von dem Mann gehört. Aodrén hatte öfter von diesem Notarius erzählt und von den wilden Gerüchten, die über ihn im Quartier Latin kursierten: ein rätselhaftes Grimoarium, uralte, mächtige Zauber und das Geheimnis der Umwandlung unedler Metalle in Gold.
Damals, als er sie zum ersten Mal gehört hatte, da hatte er die Geschichte ausgesprochen amüsant gefunden. Er war kaum älter gewesen, als sein älterer Sohn Aorélian. Er hatte sich sehr bildhaft vorgestellt, wie der weise Aodrén ohne seinen langen, weißen Bart, mit faltenlosem Gesicht und jugendlichem Eifer gemeinsam mit dem hochgelehrten Medicus Guy de Chaulliac, Großvater seines eigenen Freundes Guy, Autor der berühmten Chirurgia Magna, Leibarzt dreier Päpste und Arzt des Königs von Frankreich gemeinsam nächtelang im Dunklen vor einem Skriptorium in der Rue de Marivaux auf der Lauer gelegen hatte, nur um herauszufinden, was es denn nun wirklich mit dem Grimoarium von Nicolas Flamel und den haarsträubenden Gerüchten auf sich hatte.
Etwa zur gleichen Zeit, in der diese beiden sehr gelehrten Männer sich aufgemacht hatten, einen selbsternannten Alchimisten und Hexenmeister zu bespitzeln, war nämlich auch der französische König Charles V. auf eine ähnliche Idee gekommen. Diese höchste Einmischung hatte der Geschichte ihren besonderen Reiz gegeben: König Charles V. hatte zu jener Zeit unter der Führung seines Staatsrates de Cramoisi eine Untersuchungskommission gegen den Notarius Flamel eingesetzt. Für gewöhnlich endeten Männer, die Bekanntschaft mit königlichem Interesse und solchen Kommissionen machten entweder wegen Ketzerei und Hexerei auf dem Scheiterhaufen, oder sie verschwanden in irgendeinem finsteren, unzugänglichen und schwer bewachten Verließ. Doch Meister Flamel hatte alles vollkommen unbeschadet überstanden. Und er erfreute sich offensichtlich trotz des königlichen Interesses an seiner Person bis zum heutigen Tage immer noch allerbester Gesundheit und lebte völlig unbehelligt dort, wo er schon damals gelebt hatte.
IV
Aodrén Jaouen Kréc'h Elis streunte gemütlich durch den Wald. Der Tag der Sonnwende war strahlend und schön angebrochen und er war, von den ersten Sonnenstrahlen bereits sehr früh geweckt worden. Er konstatierte mit großer Zufriedenheit und erheblichem Stolz, dass die Fülle des anbrechenden Sommers immer noch in seinen alten Knochen strömte, obwohl er sich wegen seines ansehnlichen Alters gelegentlich einzureden versuchte, den Gezeitenstrom von Sonne und Mond nicht mehr spüren zu können. Aodrén war nach dem Ermessen aller ein außergewöhnlich betagter Mann. Er selbst leugnete nicht einmal, dass er inzwischen auch schon vergessen hatte, wie viele Sommer er wirklich zählte…und trotzdem hatte er im Augenblick des Sonnenaufgangs an diesem Morgen doch wieder die volle Kraft der schönen Jahreszeit in sich gespürt.
Andächtig strich er mit den dürren, langen Fingern über den schlohweißen Bart, der bis hinab zum Gürtel seines Gewandes reichte. Dann hielt er kurz inne und sah sich um. Viele der Bäume hatten knorrige Äste, die tief bis auf den Boden hinab hingen. Er betrachtete sie alle eine Weile mit prüfendem Blick. Schließlich machte er den aus, der ihm für eine kleine Ruhepause am See am Bequemsten erschien.
Auch sein Weib war wirklich nicht mehr die Jüngste. Aodrén überlegte kurz, murmelte etwas vor sich hin und zählte an den Fingern ab. Ja. Er hatte sie zum ersten Mal unter den Feuern von Bealltainn erblickt, nachdem er damals aus Paris zurückgekehrt war. Dort hatten sie zusammen mit dem alten Guy de Chaulliac und ein paar anderen angesehenen Gelehrten im Auftrag des französischen Königs dieses Gutachten über den schwarzen Tod erstellt. Er erinnerte sich noch genau daran, wie sie damals nach einer vierwöchigen, hitzigen Debatte am Ende einstimmig zu dem Schluss gekommen waren, dass es die ungünstige Konjunktion von Jupiter, Saturn und Mars am 24.März des Jahres 1345 gewesen sein musste - nur drei Tage nach der Frühjahres-Tag-und-Nacht-Gleiche. Diese Konstellation der Gestirne hatte jene schwerwiegende atmosphärische Veränderung verursacht, die letztendlich für den Ausbruch der großen Pest verantwortlich gewesen war. Also musste sein braves Weib in dem Jahr auf die Welt gekommen sein, in dem der erbärmliche Pietro Rainalducci gestorben war, der als Papst Nikolaus V. eine zweifelhafte Bekanntheit errungen hatte.
Und trotzdem hatte er beim Frühstück das Gefühl gehabt, das sie von ihrer gemeinsamen frühmorgendlichen Anstrengung doch weitaus weniger mitgenommen schien, als er selbst es in diesem Augenblick war. Aodrén kicherte und seine haselnussbraunen Augen leuchteten, als er die Gedanken in die Vergangenheit zurückschweifen ließ. Ein bisschen mehr als ein halbes Jahrhundert war also seit jener Nacht von Bealltainn vergangen, als diese gertenschlanke, rothaarige und glutäugige Schönheit - kaum mehr als ein Mädchen - fordernd ihre kleine, schmale Hand nach ihm ausgestreckt hatte, um mit ihm durch das Sonnwendfeuer zu springen. Er erinnerte sich noch ganz genau daran, wie er zuerst gezögert und sich geziert hatte. Er hatte sich vor den anderen fast ein wenig geschämt. Damals war er noch so sehr auf seinen Ruf als Gelehrter bedacht gewesen, dass es ihm Angst eingejagt hatte, zugeben zu müssen, dass er eben auch nur ein ganz normaler Mann war.
Obwohl es ihnen nicht verboten war, entschlossen sich doch nur ganz wenige der Weiße Brüder dazu, ein Weib zu nehmen und eine Familie zu gründen. Die Art und Weise, wie sie lebten eignete sich nicht sonderlich gut für eine solche Verantwortung. Vielleicht war es ja dieses sprühende Leben in ihr gewesen, das ihm schließlich die Angst vor der Verantwortung und der gemeinsamen Zukunft genommen hatte. Er hatte sie angelächelt, seine ganze Scheu und alle seine Bedenken in den Wind geschlagen und zugegriffen und dann war er ihr in den Wald gefolgt und sie hatte ihn eingefangen und nie wieder losgelassen. Es war die weiseste und klügste Entscheidung seines ganzen langen Lebens gewesen.
„Vielleicht“, sagte Aodrén erwartungsfroh zu sich selbst. Wenn er sich jetzt weitab des ganzen Trubels ein paar Stunden ausruhen würde... Er schmunzelte beim Gedanken an die verwirrten Blicke, die sie ihm alle heute Nacht zuwerfen würden. Dieses Mal würde er es sein, der die Hand fordernd nach ihr ausstreckte, um noch einmal gemeinsam durch das Feuer zu springen.