Die Liebesfalle. Peter Splitt
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Ich stellte ihn mir vor, wie er auf der geräumigen Holzveranda unseres Hauses in einem alten Schaukelstuhl saß und gemütlich eine Pfeife rauchte. Damals hätte meine Welt noch in Ordnung sein können, aber sie war es nicht. Immerhin hatte ich noch geglaubt, dass mir niemals etwas wirklich Schlimmes widerfahren könnte. Hatte mich Vater hochgehoben, auf seine Knie gesetzt und mir dann eine nicht enden wollende Geschichte erzählt? Ich wusste es nicht, doch die Vorstellung trieb mir Tränen in die Augen, meiner Kehle entwich ein kaum hörbares Schluchzen. Aber ich wollte mir nichts anmerken lassen, wollte nicht, dass jemand erfuhr, dass ich im Begriff war, dieses Land zu verlassen, um in meine alte Heimat zurückzukehren. Das galt besonders für den finster dreinschauenden Typen in der vordersten Reihe, der direkt an der Trennwand zur Businessklasse saß. Wachsam wie ein Fuchs waren seine Augen beim Einsteigen über die Gesichter der Mitreisenden gewandert. Dabei hatte er keine Miene verzogen und versucht, mit eiskaltem Blick jede verdächtige Regung zu registrieren. Und genau daran glaubte ich, ihn erkannt zu haben. An dem ruhelos lauernden Ausdruck in den Augen. Bestimmt war er ein Mitglied der National Security, oder was vielleicht noch schlimmer war, vom amerikanischen Geheimdienst CIA, und die hatten mich mit Sicherheit noch auf ihrer Liste.
Tief unter mir glitt der Atlantische Ozean vorüber. Mir fielen die Augen zu, aber schlafen konnte ich nicht. Wie sollte ich auch, entfernte ich mich doch immer mehr von jenem Land, in dem ich in Frieden und Freiheit gelebt hatte. Fast unmerklich lichteten sich draußen die Wolken, und ein sanfter Lichtstrahl beförderte die tosende Gicht des Meers aus einem tiefen Schatten. Kleine Inseln leuchteten wie grüne Punkte in einem endlosen Blau, aber diese Schönheit der Natur nahm ich kaum wahr. Stattdessen befand ich mich in einem Zustand der Schwerelosigkeit. Ohne ein Gewicht, das mich am Boden hielt, pendelte ich zwischen gestern und morgen hin und her, losgelöst von einem Leben, an das ich mich so sehr gewöhnt hatte. Ich wusste, ich tat es für meinen Vater, den ich kaum gekannt hatte. Ich erinnerte mich nicht einmal mehr an sein Gesicht. War es leicht von der Sonne gebräunt gewesen? Hatte er intelligente Augen, einen sanften Mund, vielleicht ein Bärtchen gehabt?
Ich hatte versucht, die Fassung zu bewahren, als der Brief von seinem Tod gekommen war. Der Brief, von einem gewissen Notar Lehmann aus Göttingen aufgesetzt, hatte mich über Umwege erreicht. So einfach kam niemand an meine Adresse heran. Danach hatte ich zum ersten Mal mit Tante Ingeborg telefoniert. Obwohl ich mich bei dem Telefonat sehr bemüht hatte, meine Emotionen unter Kontrolle zu halten, musste sie sofort gespürt haben, wie nervös ich gewesen war. Beinahe vermochte ich mir das Telefongespräch nicht mehr ins Gedächtnis zurückzurufen, denn zu sehr hatte die Nachricht von Vaters Tod meine Gefühle und Sehnsüchte im Keim erstickt. Etwas begann an meinem Inneren zu nagen. Etwas, dass mich nicht mehr loslassen wollte.
Nach gut zehn Stunden Flugzeit verlor der Airbus A 320 der Lufthansa langsam an Höhe und war im Begriff, sich dem Rhein-Main-Flughafen von Frankfurt zu nähern. Ich drückte meine Nase gegen das ovale Fenster und beobachtete die Umgebung des Flughafens in der grellen Herbstsonne. Die Umstände, die zu meiner Reise geführt hatten, kamen mir jetzt fantastisch vor, und doch freute ich mich irgendwie auf die Rückkehr in meine Heimat. Die Räder des enormen Jets berührten den Boden und verursachten eine Erschütterung in der Kabine. Einige der Passagiere applaudierten, froh, wieder festen Boden unter ihren Füßen zu wissen. Das Flugzeug blieb nach einem letzten Rütteln endlich stehen, der Lärm der Motoren verstummte. Eine allgemeine Mobilität machte sich unter den Passagieren breit, als sie auf das Verlassen der Maschine vorbereitet wurden. Ich blieb noch sitzen und beobachtete die Wolken über dem Himmel der Main-Metropole. Fast kam es mir so vor, als wollten sie sagen: „Herzlich willkommen daheim in Deutschland.“
Letztendlich erhob ich mich aber doch, verließ den Flieger durch die Vordertür und folgte der Menge auf dem schmalen Gang hinüber zur Abfertigung meines Inlandsfluges nach Hannover. Die Menschenmenge sammelte sich um mich herum, aber niemand schien etwas anderes zu sein als einfach ein Reisender ohne Eile.
Kapitel 2
Oktober 2002
Ich mietete mir am Flughafen Hannover Langenhagen einen Leihwagen und fuhr auf die Autobahn 7 in Richtung Hildesheim. Unterwegs musste ich tanken. Ich fühlte mich sicherer, wenn der Tank voll war. Außerdem brauchte ich eine Straßenkarte. Benzin und Karte bezahlte ich mit meiner Kreditkarte, aber da waren auch noch die Kaugummis, die ich mir ausgesucht hatte. Die wollte ich bar bezahlen. Ein paar D-Mark Münzen hatte ich noch dabei.
„Das macht einen Euro“, sagte die Angestellte an der Kasse, während sie etwas in die Tastatur eintippte.
„Wie bitte?“ Ich glaubte, mich verhört zu haben. Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ab dem Januar dieses Jahres hatte man in Europa den Euro eingeführt. Auch davon hatte ich gelesen. Besonders, dass sich die Menschen nicht so richtig mit der neuen Währung anfreunden konnten. Jetzt verstand ich auch, warum. Einen Euro für die Kaugummis. Das waren nach meiner Rechnung zwei D-Mark. Unglaublich! Ich ließ die Kaugummis liegen, stieg in meinen Leihwagen und fuhr weiter nach Göttingen. Mittlerweile war es Abend geworden, und ich spürte die Auswirkungen der langen Reise. Ich war jetzt gute achtzehn Stunden unterwegs, das mehrfache Umsteigen mit eingerechnet. Die Adresse, die mir Tante Ingeborg genannt hatte, lag im Ostteil der Stadt. Als ich von der A 7 abfuhr, landete ich im Westen. Ich hielt kurz an, schaute auf die Karte. Göttingen war nur als kleiner Punkt zu erkennen. Das half mir nicht weiter. Ich erkundigte mich bei einem Passanten. Er schickte mich über die B 3 und B 27 zum Stadtwald. Hier befand sich das sogenannte Villenviertel. Es erstreckte sich den Hang des Göttinger Waldes hinauf – eine feine Wohngegend.
Ich hatte es geschafft, parkte den Wagen auf dem Seitenstreifen und sah mich um. Bereits aus größerer Entfernung erkannte ich die niedrige hölzerne Gartenpforte im Licht der untergehenden Sonne. Es folgte ein grün angelaufenes, weit heruntergezogenes Satteldach, das das weiß getünchte Haus darunter fast völlig verdeckte. Ich atmete tief durch, als ich den Garten sah. Die rötliche Erde, die durch das Grün schimmerte, die würzige, warme Feuchtigkeit, die von ihr aufstieg, die bunten Schmetterlinge auf den unzähligen Blüten sowie der natürlich parfümierte Duft beruhigten mich. Ich ging um das Haus herum, rollte meinen Koffer hinter mir her. Großblättrige Pflanzen wucherten bis in die breiten Kronen der Bäume und ließen die letzten Sonnenstrahlen in grün-goldenen Flecken auf der erwärmten Erde tanzen. Zwei Elstern turnten an den Halmen eines dichten Lorbeerbusches. Auf den steinigen Wegen hatten die Pflanzen begonnen, sich ihren Grund zurückzuerobern. Naturbelassen nannte man das wohl.
Dann stand ich vor einer Holzveranda mit einem Geländer aus gitterartigem Zaungeflecht. Hier blätterte langsam die Farbe ab, ein neuer Anstrich war überfällig. Ich ließ meinen Koffer einfach stehen, stieg vorsichtig die kleine Holztreppe hinauf und betrat den warmen Holzboden der Veranda. Hier und da huschte ein Käfer vor mir über die ausgelatschten Bohlen. Die Fenster des Hauses standen offen, genauso wie die Eingangstür. Ich blickte an der hellen Fassade empor und empfand ein unerwartetes Bedauern. Wie schön doch dieses Haus war. Ein echtes Schmuckstück in einer Straße, in der selbst unbebaute Grundstücke bereits ein Vermögen kosteten. Es war Vaters Haus gewesen. Er hatte es in sein Heim verwandelt. Ich versuchte, mich an ihn zu erinnern, aber es gelang mir nicht. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wer er gewesen war. Nur manchmal erinnerte ich mich an ein Gespräch, das sich seit meinen Kindertagen fest in meinem Kopf verankert hatte. Es war das letzte Mal, dass ich meine Eltern miteinander hatte streiten hören.
„Du sagst mir nie, dass ich hübsch aussehe! Wieso eigentlich nicht?“
„Ich sag es dir doch andauernd, Liebling, aber du hörst ja niemals zu.“