Die Liebesfalle. Peter Splitt

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Die Liebesfalle - Peter Splitt

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etwas nennt man gesellschaftliche Pflichten, Kindchen. Um die werden wir nicht herumkommen.“

      „Wenn du meinst … Liegt sonst noch etwas an?“

      „Nun, über die aktuellen geschäftlichen Dinge können wir zu einem späteren Zeitpunkt sprechen. Nachdem du die Herren der Werksleitung kennengelernt hast. Bist du damit einverstanden?“

      „Grundsätzlich schon, aber ich möchte noch unbedingt hinaus nach Wolfersdorf. Nach alldem, was geschehen ist, bin ich sehr gespannt, wie es dort aussieht.“

      „Kein Problem. Wir werden sehen, wie wir das zeitnah einbauen können.“

      Ich strich mir nachdenklich die Haare nach hinten. Das Ganze nahm ganz andere Ausmaße an, als ich zunächst angenommen hatte.

      Zwei Tage später fuhr ich nach Wolfersdorf. Ich tauchte in eine Zeit ab, die ich glaubte, längst vergessen zu haben, und meine Stimmung wurde genauso wie das Wetter – trist und grau.

      Das schlossähnliche Gebäude war gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts errichtet worden. An seiner verwitterten Fassade rankten mannshohe Schlingpflanzen in die Höhe. Entlang der hohen Natursteinmauer, die das große Grundstück umgab, verbreiteten Disteln und Philodendron einen bitteren Geruch. In der Mitte des verwilderten Gartens, zwischen der Mauer zur Straßenseite hin und dem wuchtigen grauen Bauwerk, stand eine uralte Eiche. Ihre Blätter bildeten einen mächtigen Schirm gegen Regen und zu viel Sonne. Auf dem festgetretenen Lehmboden verteilten sich vereinzelte Felsbrocken. Zwischen ihnen wuchsen Löwenzahn und farnartige Pflanzen. Dahinter bot ein kleiner Durchgang dem neugierigen Eindringling einen schnelleren Zutritt als das Hauptportal, das zusätzlich durch ein eisernes Tor gesichert war. Der alte Bau machte einen unheimlichen Eindruck. Von den einstmals vergitterten Fensterscheiben waren nur noch zwei intakt. Die Fensterbänke waren morsch und faulten vor sich hin. Die Haustür hing schräg aus den Angeln. Das Dach hatte zur Ostseite hin mehrere Löcher, sodass der Regen ungestört in den Innenraum strömen konnte. Er plätscherte auf die alten Holzdielen und hinterließ kleine hässliche Pfützen auf dem unebenen Untergrund. An anderen Stellen rann er weiter und bahnte sich seinen Weg über die Korridore bis hin zu den kleinen Zellen, in denen hier und da noch die Überreste verrosteter Bettgestelle standen. Sie stammten noch aus jener Zeit, als das Gebäude ein Heim für schwer erziehbare Kinder beherbergte. Das waren Kinder mit angeblichen Disziplinschwierigkeiten, oder solche, deren Eltern wegen versuchter Republikflucht und Staatshetze im Gefängnis saßen. Im Heim war alles streng reglementiert. Die Gruppe war alles, was zählte. Der Einzelne musste zurückstecken und seine Bedürfnisse hinten anstellen. Besonders schlimm erging es jenen Kindern, die eine Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit verweigerten. Sie waren der Willkür des Personals ausgesetzt, wurden misshandelt und gedemütigt. Das war vollkommen legal und gewollt, in einem Land, das 1961 die Mauer gebaut hatte.

      Dunkle Wolken zog über das Land. Sie brachten Nieselregen und Nebel mit sich. Ich zog hastig an meiner Zigarette und blies den blauen Dunst in den grauen Himmel. Dann knöpfte ich mir den Mantel zu. Ich fröstelte. Allerdings weniger wegen des einsetzenden schlechten Wetters, sondern aufgrund der Erinnerungen, die mir der baufällige Koloss bescherte. Hier hatte vor langer Zeit mein Leidensweg begonnen.

      Zögernd passierte ich den versteckten Durchgang. Der Lehmboden wurde mit zunehmendem Regen glitschiger. Meine schwarzen Stiefeletten schlitterten durch den Dreck. Vor dem Eingang blieb ich stehen, sah mich vorsichtig nach allen Seiten um. Nein, hier war niemand, konnte niemand mehr sein. Das Gebäude stand einsam und Furcht einflößend vor mir. Ich überlegte, blickte unruhig die verwitterte Fassade hinauf. Etwas fehlte. Die Erinnerungen kamen langsam zurück. Neben der Eingangstür hatte sich ein auf Hochglanz poliertes Messingschild befunden. Wie von Geisterhand erschien ein Name vor meinem geistigen Auge. Ein Name, der für mich gleichbedeutend war mit Höllenqualen und Folter: Spezialkinderheim Wolfersdorf.

      Allein die Gedanken an das Wort ‚spezial‘ ließen mich erschaudern. Es war der Ausdruck für eine Behandlung, die ich jahrelang ertragen musste.

      Vorsichtig strich ich über das raue Mauerwerk. Meine Hände zitterten. Ich wunderte mich über mich selbst. Wunderte mich darüber, dass ich es nach all den Jahren geschafft hatte, an diesen Ort zurückzukehren.

      Auch wenn das Gebäude völlig verwahrlost vor mir stand, die Empfindungen und die Erinnerungen waren geblieben. Mit der Zeit hatte ich gelernt, keinerlei Emotionen nach außen zu zeigen, mir jegliche Mimik zu verkneifen. Ich hatte nicht mehr gelacht, nicht mehr geweint. Das 24-stündige Sprechverbot von damals und die absurden Strafmaßnahmen hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Damals, das war auch die Zeit gewesen, bevor man mich ins Heim steckte. Als ich zusammen mit meiner Zwillingsschwester Anni aufwuchs, kurz nachdem Vater uns verlassen hatte.

      „Das Schwein hat in den Westen gemacht und uns einfach im Stich gelassen“, sagte Mutter immer dann, wenn ich sie auf Vater ansprach.

      Die einzige Existenz, die es von ihm gab, war ein Foto auf dem gebogenen Holzbrett im Wohnzimmer, das Mutter als Regal diente. Daneben lag das einzige Buch, das im ganzen Haus zu finden war. Es war ein altmodisches Buch mit dem Abbild eines großen Schmetterlings als Titelbild. Auf der zweiten Seite stand Mutters Name mit großen, geschwungenen Buchstaben geschrieben: Edelgard Böhm.

      Die Seiten waren glatt und sauber, obwohl sie so rochen wie alles andere in unserer armseligen Behausung – nach Feuchtigkeit und Desinfektionsmitteln. Letztere verwendete Mutter für die Toilette hinter dem Haus. Ich blätterte gern in dem Buch, sah mir die illustrierten Seiten an. Sie handelten von einheimischen Tieren. Von dem, was sie fraßen, wie sie ihren Unterschlupf bauten und wie sie sich paarten. Besonders das interessierte mich. So wusste ich frühzeitig über Paarung Bescheid. Sowohl bei den Tieren als auch bei den Menschen. Damit verdiente sich Mutter den Lebensunterhalt. Hauptsächlich nachts, wenn sie glaubte, dass niemand etwas davon mitbekam. Aber ich bekam natürlich alles mit.

      Meine früheste Kindheitserinnerung war eine Prozession von nackten, fremden Männern, die in oder aus Mutters Bett stiegen.

      Dazu erklärte sie immer: „Das sind alles deine Onkel, Mariechen. Sei nur nett und höflich zu ihnen.”

      Die Männer waren grob und stark. Sie blieben für eine Nacht, für eine Woche oder manchmal auch für einen Monat. Danach verschwanden sie so plötzlich, wie sie aufgetaucht waren. Kaum war einer fort, schaute sich Mutter schon nach einem neuen Liebhaber um. Fand sie einen, so kam das, was immer kam.

      Eigentlich sollte ich schlafen, in dem kleinen, kalten Hinterzimmer, während sich Mutter im vorderen Zimmer aufhielt. Das war wenigstens warm und wurde vom Licht der rosa Lampe auf dem Tisch beleuchtet. Meistens wartete sie, bis sie glaubte, wir Kinder wären eingeschlafen. Erst dann ließ sie die Männer ins Haus. Und meistens schlief ich dann auch tatsächlich, aber die Geräusche holten mich wieder zurück. Im Vergleich zu meiner Schwester hatte ich den leichteren Schlaf und die unruhigere Blase. Ich musste damals dauernd aufs Klo. Das stand für sich allein hinter dem Haus. Manchmal schaffte ich es nicht mehr bis dorthin. Und draußen war es kalt. Da machte ich lieber gleich ins Bett, auch wenn ich mir dafür Schelte und Schläge einhandelte. Bettnässen war ein auffälliges Verhalten.

      Die Haustür schlug zu. Schwere Schritte ertönten auf der schmalen, abgenutzten Treppe. Männerstimmen, Lachen. Ein Lichtspalt fiel vom Treppenabsatz auf ihr Gesicht, als Mutter auf Zehenspitzen in das Zimmer schlich und im Schrank herumkramte, um die Blechdose zu suchen, in der sie ihr Geld aufbewahrte. Sie fand die Dose, hielt sie in die Höhe, sodass ich das zerkratzte Blech glänzen sehen konnte, während Mutter den kleinen Schlüssel umdrehte und

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