Die Tochter, die vom Himmel fiel. Jürgen Heller
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Der Busfahrer hat kurz hinter Kufstein den letzten Fahrgast abgesetzt. Jetzt freut er sich auf seinen Feierabend. Er wird sich gleich mit seiner Frau noch einen guten Schluck gönnen, hat ja morgen frei. Da könnten sie gemeinsam etwas unternehmen, soll ja sommerlich warm werden. In dem kurzen Waldstück, das ihn immer daran erinnert, dass er gleich zu Hause ist, kommt ihm ein weißer Kleinwagen entgegen, Rosenheimer Kennzeichen.
Da hat der dicke deutsche Arzt bestimmt wieder Besuch von einer seiner Prostituierten gehabt. Das ist ja auch ein Leben. Immer nur Sex gegen Geld. Nein, mit dem möchte ich nicht tauschen, da bleibe ich lieber bei meiner Kathi und den beiden Kleinen.
Er passiert die letzte Haltestelle, an der natürlich um diese Zeit keiner mehr steht, und wirft noch einen kurzen Blick in den Rückspiegel.
Eigenartig, da hinten ist der Himmel ganz rot, fast so als würde es brennen. Da werden doch nicht wieder irgendwelche Idioten im Wald mit offenem Feuer …, oder liegt da nicht diese Jagdhütte von diesem deutschen Arzt?
Berlin, Montag, 21.07.2014
Bruno Hallstein sitzt noch etwas verschlafen an seinem Esszimmertisch, der eigentlich ein Multifunktionstisch ist. Jetzt nicht wie der legendäre MuFuTi, der die DDR-Möbelindustrie auf Weltniveau bringen sollte. Nein, der hier ist ein einfacher Pinienholztisch mit vier festen Beinen, auch nicht ausziehbar oder in der Höhe verstellbar. Aber so von der Vielfältigkeit her schon Multi, Arbeitstisch, Ablagetisch, Computertisch, Radioreparaturtisch, Kreuzworträtsel- und Sudokutisch, manchmal eben auch Esstisch. Bruno hat sich heute ausnahmsweise mal ein Frühstück zusammengestellt, wollte nicht wie sonst üblich in der Küche nur schnell etwas einwerfen. Schließlich hat er morgen Geburtstag und das heißt, morgen beginnt der Ernst des Lebens. Da kann, ja da muss man heute noch einmal vernünftig frühstücken, so mit frisch aufgebackenen Brötchen, Aufschnitt, Kaffee und natürlich der Tageszeitung.
Fehlt noch was? Ach ja, bisschen Musik könnte nicht schaden. Dann hör ich meine Essgeräusche nicht so…
Er steht noch einmal auf und schaltet das kleine Internetradio an. Er hat sich schon lange abgewöhnt, heimische Sender zu hören. Zu sehr geht ihm diese massenproduzierte englischsprachige Popmusik auf die Nerven und dann diese peinlich lustigen Moderatoren, die eigentlich alles sind, nur nicht lustig und moderieren? Also Moderation ist etwas anderes, da steckt das Wort moderat drin. Und wer will schon morgens beim Frühstück überhaupt Witze hören? Bruno Hallstein jedenfalls nicht. Ihn interessiert auch nicht, ob auf dem Berliner Ring irgendwo ein Blitzer steht, nicht mal wenn er in beide Richtungen blitzt, und überhaupt blitzen, was ist das eigentlich für ein blöder Ausdruck? Die Dinger blitzen doch gar nicht mehr. In dem Radio ist noch der Sender von gestern eingeschaltet, Radio Tirol. Den hört er eigentlich auch nur, um etwas über seine zweite Heimat zu erfahren, Wetter, neueste Nachrichten, Schneelage, usw. Also Schneelage im Juli natürlich völlig unsinnig. Die Zeiten, wo man in den Gletscherskigebieten mit der Möglichkeit zum Sommerskilauf geworben hat, sind schon ewig vorbei, und Bruno zweifelt, ob es diese Möglichkeiten überhaupt je gegeben hat. Er hat sie jedenfalls nicht erlebt, kann sich noch erinnern, wie er 1986 einmal den Versuch unternommen hat, im Mai am Stubaier Gletscher Ski zu fahren, aber das hatte mit Skifahren nicht viel zu tun. Spätestens ab Mittag versank man bis zu den Knöcheln im weichen Matsch und tiefen Wasserlachen. Er fragt sich seitdem auch, weshalb man eigentlich im Sommer Skifahren muss. Eine belastbare Antwort ist ihm dazu noch nicht eingefallen.
Es ist kurz nach halb Neun und sein Tiroler Sender bringt Regionalnachrichten. Da unterscheidet er sich nicht von allen anderen Radiosendern dieser Welt, es gibt nur schlechte Neuigkeiten, Verkehrsunfälle, Bergunfälle, Mord und Totschlag, Raub und Erpressung, weiß der Teufel, was die Menschen noch alles im Repertoire haben. Manche zünden auch Häuser an. Bruno dreht die Lautstärke noch etwas herunter und ist froh, als endlich wieder Musik zu hören ist, mal was auf Italienisch, auch nicht schlecht. Bruno hat sich gerade in den Sportteil seiner Zeitung vertieft, als sich sein Smartphone meldet, Karla.
"Guten Morgen, mein Schatz, hast du gut geschlafen?"
"Schatz? Was soll das denn? Hast du noch Restalkohol im Blut?"
"Mein Gott, da will man mal nett sein …"
"Sag doch einfach Karla zu mir."
"Nee, also dann lieber Frau Zinke. Hast du gut geschlafen, Frau Zinke?"
"Ja, Herr Hallstein, habe ich. Ich wollte dich übrigens nur fragen, was du dir zum Geburtstag wünschst. Aber wie ich dich einschätze, wahrscheinlich gar nichts."
"Doch, doch, ich wünsche mir ein, warte mal …, ja, ich weiß, ich wünsche mir einen Ohrring."
"Hast du sie noch alle? Einen Ohrring? Wie wär's denn mit einem Tattoo?"
"Tattoo wär auch nicht schlecht. Ist dir ein Ohrring zu teuer?"
"Nein, wie kommst du darauf? Für dich ist mir nichts zu teuer. Hast du denn überhaupt ein Loch im Ohr? Ich glaube eher, du hast ein Loch im Kopf."
"Gibt's nicht welche, wo man ohne Loch im Ohr auskommt? Loch im Ohr ist nicht gut, das tut ja weh. Meine Mutter hat immer solche Clips getragen. Genau, ich wünsche mir einen Ohrclip."
"Pass mal auf, Loch im Ohr tut nicht weh aber ich würde körperlichen Schmerz empfinden, wenn du mit einem Ohrring oder Clip herumlaufen würdest."
Bruno erkennt, dass mit Karla heute Morgen nicht zu spaßen ist. Wahrscheinlich liegt es daran, dass sie es mit der Geschenkefrage äußerst ernst gemeint hat. Dabei müsste sie wissen, dass Bruno seinen Geburtstag am liebsten ganz ignorieren würde. Immerhin haben sie sich wenigstens darauf geeinigt, dass sie sich heute Abend in der 'Alten Mühle' zum Essen treffen. Vielleicht feiern sie in den Geburtstag rein, stoßen gemeinsam an, mal sehen, wie es sich ergibt. Im Moment ist ihm noch nicht nach Feiern zumute. Ist ja auch noch früh am Tage. Bruno hat die Zeitung zur Seite gelegt, da kann er nachher noch einmal reinschauen. Jetzt muss er erst mal seine Bude auf Vordermann bringen. Man weiß ja nie, nachher landen sie heute Abend noch hier in seiner Wohnung und dann? Frauen sind da sehr sensibel. Obwohl, eines kann man ihm nicht vorwerfen, dass er nicht auf Sauberkeit achtet. Gut, eins ist klar, Junggesellenhaushalt, das schon, aber eigentlich immer alles pikobello. Auch er selber, immer gepflegt und ordentlich angezogen, da ist Bruno Hallstein sehr eigen. Einmal in der Woche kommt auch eine Putzfrau, die so die Grundreinigung durchführt, Beispiel Fensterputzen oder wo man hinterher sagt In-Bad-und-WC-ist-alles-Okay. Die junge Russin ist mit ihren zwei Kindern allein und froh, dass sie diese Beschäftigung bei Bruno gefunden hat, wohnt gleich ein Haus weiter. Bruno hat sie mal beim Bäcker getroffen und mitbekommen, wie sie die Verkäuferin gefragt hat, ob die nicht wisse, ob jemand eine Haushaltshilfe suchen würde. Auf der Straße hat er sie dann einfach angesprochen und war vom ersten Augenblick an von ihrer Eignung überzeugt. Gut, da spielte schon auch eine Rolle, dass sie sehr hübsch war, so mit ganz hellen Augen. Viele Russinnen sehen so aus aber viele übertreiben dann auch, viel Make-up, aufreizende Kleidung und dann diese weißen viereckigen Fingernägel. Aber Valentina überhaupt nicht, ganz normal, ganz dezent, naja, Bruno hat es jedenfalls bis heute nicht bereut, dass er ihr diesen Job gegeben hat. Er bezahlt sie fair und lässt ihr alle Freiheiten. Wann und wie oft sie kommt, was sie saubermacht und mit