Die Tochter, die vom Himmel fiel. Jürgen Heller

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Die Tochter, die vom Himmel fiel - Jürgen Heller

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ihr völlig. Sie dankt es mit absoluter Perfektion und Zuverlässigkeit. Meistens ruft sie zwei Tage vorher an, fragt, ob etwas Besonderes getan werden müsse und dann ist sie da, bringt immer ihre beiden Kinder mit und Bruno kann nur staunen, wie fleißig die Mutter und wie artig die Kinder sind. Das Mädchen sitzt meistens die ganze Zeit am Esszimmertisch und malt in einem Buch Figuren mit Farbstiften aus, also noch eine Funktion, Maltisch. Der Junge, wohl schon etwas älter, will seiner Mutter immer helfen. Sie gibt ihm kleine Aufträge, wie Staubwischen oder Blumengießen, wobei Blumengießen? Naja, mit Mühe und Not kommt man in der ganzen Wohnung auf zwei Blumentöpfe, eine Ficus Benjamina, die ihm seine Schwester Anette zum Einzug geschenkt hat und eine Orchidee, auch ein Geschenk. Bruno weiß nicht mehr von wem und staunt immer wieder, dass diese Blume überhaupt noch existiert.

      Er hat jetzt aus der Abstellkammer den Staubsauger geholt und fasst nach dem Einschalten den Entschluss, den er immer fasst, wenn er staubsaugt. Ein neuer Sauger muss her, dieses Höllengeräusch ist auf Dauer nicht auszuhalten und mit Sicherheit hochgradig gesundheitsgefährdend. Und wie immer stellt er ihn nach Abschluss der Arbeit wieder in die Abstellkammer zurück, einmal geht noch. Das Monster ist inzwischen an die zehn Jahre alt.

       Vielleicht sollte ich mir einen neuen Staubsauger zum Geburtstag wünschen.

      Bruno wirft noch einen Blick in die anderen Zimmer, nach seiner Meinung alles in Ordnung. Sogar das kleine Gästezimmer, das er eigens für eventuellen Besuch eingerichtet hat, sieht sauber und aufgeräumt aus. Allerdings Gästezimmer nicht ganz der treffende Name. Bisher hat nur er selber hier übernachtet, obwohl das breite Bett recht komfortabel ist. Bruno findet manchmal in seinem Schlafzimmer, wo er echte Ehebetten zu stehen hat, keine Ruhe, meistes im Sommer, wenn es sehr warm ist und die Fenster offen stehen. Dann kommt es schon mal vor, dass ihn der ewig anhaltende Straßenverkehr nicht zur Ruhe kommen lässt. So ein Kopfsteinpflaster ist ja vielleicht ganz nostalgisch, nur wenn alle paar Sekunden ein Auto durch die Straße fährt, Hölle, gerade nachts, wenn alle anderen Geräusche verstummt sind. Das Fenster des Gästezimmers geht nach hinten zum Hof raus. Da ist es ruhig. Aber es hat auch noch einen anderen Reiz im Gästezimmer zu schlafen, fast wie Urlaub, wo man ja auch in fremden Betten schläft. Apropos Urlaub. Seit knapp zwei Wochen sind in Berlin Sommerferien. Hier draußen in Tegel merkt man nicht so viel davon, weil natürlich auch in den Schulferien viele Tagesgäste die schöne Umgebung des Tegeler Sees und seiner Wälder genießen wollen. In der Innenstadt merkt man aber schon, dass viele Berliner in den Urlaub gefahren sind.

       Vielleicht sollte ich auch mal wieder wegfahren. Ist schon ein Weilchen her, zuletzt Ostern 2012. Oje, wenn ich daran noch denke. Bombenanschlag beim Osterfeuer und ich saufe bald in der Ostsee ab. Und dann die schöne Monika, die schwarze Witwe…

      Bruno reißt sich von den trüben Gedanken los, obwohl die Erinnerungen an die Frau seines Cousins so trübe gar nicht sind, eher verwegen. War schon eine heiße Kiste damals. Hat ihn fast an der Beziehung zu seiner Karla zweifeln lassen.

       Naja, alles Schnee von gestern. Überhaupt Schnee, Skifahren war ich auch nicht im letzten Winter. Ist ja kein Wunder, dass ich urlaubsreif bin. Anna mal wiedersehen, das wäre richtiger Urlaub für mich. Aber was mache ich dann mit Karla? Die will doch dann bestimmt mit…

      Bruno kommt zu keinem Schluss. Muss auch nicht jetzt sein. Er zwingt sich, über die Gestaltung seines Geburtstages nachzudenken, quasi Eventmanagement. Karla, sein Freund Harry und nicht zuletzt seine Schwester Anette würden es nicht akzeptieren, wenn er einfach über den Sechsundsechzigsten hinweggehen würde. Seine Mutter müsste er auch mal wieder besuchen.

       Wäre das nicht eine Idee, alle dorthin einzuladen? Scheiß Idee, die ist inzwischen 91 Jahre alt und ihre lichten Momente sind eher die Ausnahme.

      Seit ihrem Oberschenkelhalsbruch vor fast drei Jahren in ihrer Seniorenresidenz Sonnenschein ging es stetig mit ihr bergab. Zuerst glaubten Bruno und Anette noch, dass man ihr nur Zeit geben müsse. Aber in dem Alter arbeitet die Zeit nur gegen einen, und spätestens an ihrem 90. Geburtstag, als ihre beiden Kinder sie besuchten und sie gar nicht wusste, dass sie Geburtstag hatte, und es auch nicht glauben wollte, da ahnten sie, dass das Schicksal nun auch ihre Mutter mit der Altersdemenz eingeholt hatte. Wenn Bruno ganz ehrlich zu sich selber ist, und das ist er zuweilen, dann ist er froh, wenn er da nicht hin muss. Zu sehr erschüttert ihn der Anblick dieser vielen alten Menschen, wie sie immer unselbstständiger werden, fast nichts mehr allein können. Er hat vor kurzem ein Buch gelesen, in dem der Autor das Leben seines an Demenz erkrankten Vaters beschreibt und das Zusammenleben mit ihm. Bruno erinnert sich sehr gut an die kritische Auseinandersetzung mit der allgemein üblichen Redensart, dass die Menschen im Alter wieder wie Kinder werden würden. Bruno hat den Autor verstanden, der feststellte, dass das gerade nicht der Fall sei, weil Kind sein gleichzeitig bedeutet, Weiterentwicklung, Dazulernen, Fähigkeiten und Wissen anreichern. Davon kann wohl bei seiner Mutter kaum die Rede sein. Menschen, die unter dieser Krankheit leiden, verlassen mehr und mehr diese Welt und man muss ihnen in ihre Welt folgen, wenn man noch so lange es geht eine Gemeinsamkeit mit ihnen erleben will. Hinzu kommt bei Bruno das Problem, dass er das Schicksal dieser alten Menschen immer auf sich selbst projiziert. Er kann gar nicht anders, sieht sich dann in der gleichen jämmerlichen Situation. Jedenfalls belastet ihn ein Besuch bei seiner Mutter immer sehr und er ist schon Tage vorher verspannt und Tage danach noch niedergeschlagen.

       Außerdem ist morgen m e i n Ehrentag, den will ich mir nicht versauen. Mama weiß doch sowieso nicht, dass morgen ihr Sohn 66 Jahre alt wird. Eines Tages wird sie mich nicht mal mehr erkennen, das haben die Ärzte mir schon prophezeit. Scheiß Alter und ich werde schon 66, kaum zu glauben. Wer weiß, wie lange es noch geht? Allerdings, wenn ich die Gene meiner Mutter …, aber Demenz ist auch nicht gerade mein erklärter Wunsch. Obwohl die Betroffenen …, die merken ja gar nichts davon oder doch? Kann man sich bewusst sein, dass man seine eigenen Kinder nicht mehr erkennt? Hört sich irgendwie unlogisch an, aber was ist am Menschsein schon logisch? Außerdem habe ich ja gar keine Kinder. Schönes Thema. Wie komme ich jetzt davon wieder weg?

      Bevor Bruno die Wohnung verlässt, schaut er noch einmal in den Spiegel, müsste sich eigentlich noch rasieren, hat aber keine Lust.

       Kann ich ja nachher noch machen, bevor ich mich mit Karla treffe. Dann rieche ich auch gleich etwas verführerisch. Siehst du, schon ganz andere Gedanken …

      Ein Blick auf die Wetterstation zeigt ihm Sommer, Sonne, schon fast 30 Grad und offenbar recht windig. Er trägt leichte Jeans und ein weinrotes Polohemd, zieht aber noch eine dünne Weste darüber. Irgendwo muss man ja seinen Kram lassen, Geld, Papiere, Schlüssel, Handy. Es gibt nicht viel, was Bruno wirklich hasst, aber Herrenhandtaschen gehören dazu. Bruno geht die zwei Treppen gemächlich hinunter, bloß nicht hetzen bei der Hitze. Frau Krause hat deshalb genügend Zeit, sich in Position zu bringen.

      "Gut, dass ich Sie treffe. War ganz schön laut gestern Nacht. Hatten Sie Besuch? Also wenn das so weitergeht mit Ihnen, werde ich mich bei der Hausverwaltung beschweren."

      "Also erstens, Guten Morgen, Frau Krause, zweitens, es gibt keine Hausverwaltung, nur eine Eigentümerversammlung. Außer ihrer Wohnung sind alle anderen von den Besitzern bewohnt, auch meine. Ich bin sozusagen der Eigentümer dieser Wohnung, falls Sie das verstehen. Dann können Sie sich direkt bei mir beschweren, aber bitte nur schriftlich. Darüber hinaus war bei mir gar nichts los, da müssen Sie wohl etwas verwechseln, und überhaupt, bei der Lautstärke ihres Fernsehers können Sie doch sowieso nichts anderes hören. Schönen Tag noch."

      Frau Krause hat brabbelnd die Tür geschlossen, hat wohl ihr Tageskontingent an Sozialverhalten verbraucht. Wenn Bruno guter Dinge ist, kann er über diese Meckerziege nur lachen, wenn er aber schlecht gelaunt ist, kann er schon mal ziemlich grob werden, heute so Mittelwert.

       Diese blöde Ziege,

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