Regen am Nil. Rainer Kilian
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Auch Senenmuts Familie stimmte mit in die alten Weisen ein. Räucherkerzen verbreiteten einen angenehmen Duft im Raum, der an allen Wänden kunstvoll bemalt war. Senenmut entzifferte die alten Schriften, die ihn sein Vater gelehrt hatte: „Der Gerichtshof, der die Elenden richtet, wird nicht milde gestimmt sein an dem Tag, da die Unglücklichen verurteilt werden. Schlimm ist es, wenn der Ankläger allwissend ist. Vertraue nicht auf die Länge der Jahre, sie sehen die Lebenszeit wie eine Stunde an. Nach dem Sterben bleibt der Mensch allein. Und seine Taten werden neben ihm auf einen Haufen gelegt ... Wer das Jenseits erreicht, ohne Unrecht getan zu haben, der wird sein wie Gott, frei schreitend wie die Herren der Ewigkeit.“
„Ich bin stolz auf dich, mein Sohn“, sagte Hatnofer. „Du bist sehr geschickt im Lesen der Schrift, bald kannst du wie dein Vater als Schreiber arbeiten.“
„Das ist wahr“, pflichtete ihr Ramose bei und erklärte die Bilder: „Anubis, der schakalköpfige Gott, führt uns nach unserem Tod vor das Totengericht. Toth, der Allwissende, wird dein Herz wiegen. Wenn du die Wahrheit sprichst, wird es leichter sein als eine Feder. So wird Osiris deinen Körper wieder mit deinem Ka und Ba vereinen. Die die Unwahrheit sprechen, werden aber von dem krokodilköpfigen Monster verschlungen werden, sie müssen den zweiten Tod sterben. Denn dann wird dein Herz schwer sein, wenn es voll Lüge ist und die Waage wird sich senken. Dann gibt es kein Entrinnen mehr, du bist für alle Zeit verloren!“ Respektvoll lauschte Senenmut den Erklärungen seines Vaters, während er jedes Detail der Bilder in sich aufnahm.
Während der gesamten Nacht aßen und tranken sie, hielten Zwiegespräch mit ihren Ahnen und ehrten sie durch ihre Anwesenheit. „Höre, mein Sohn, mit nichts kannst du mehr Ehre erlangen, als dass du deine Vorfahren ehrst. Denn nur so können sie im Binsengefilde leben ohne Sorge und in Freuden. Wenn deine Mutter und ich einst ins Reich des Osiris eingegangen sind, wird es deine Aufgabe sein, uns zu ehren und deinen Kindern von uns zu erzählen. Behüte unser Grab vor Räubern, denn nur wenn unsere Körper unversehrt sind, wird es uns möglich sein, im Reich des Osiris zu wandeln.“
Senenmut war stolz darauf, dass sein Vater ihn mit dieser Ehre betraute. Er schwor sich insgeheim, seine Vorfahren niemals enttäuschen zu wollen. Mit stolz geschwellter Brust stimmte er in den Gesang seiner Brüder und Schwestern ein.
Bis zum Aufgang der Sonne tanzten und sangen sie und ehrten Amun-Re im ersten Licht des neuen Tages mit geheimnisvollen, überlieferten Ritualen. Dann zogen alle zurück in ihre Dörfer auf der rechten Nilseite. Noch lange konnte man die Musikinstrumente hören, die die Nilbarken bei ihrer Überfahrt zum Ausklang des Talfestes begleiteten. Langsam verstummten die Trommeln und Leiern, als sich die Bewohner zum Schlafen in ihre Häuser zurückzogen. Ohne das Schreien der Ibisse wäre absolute Ruhe im Niltal gewesen.
Doch fast unmerklich konnte man ein helles Klingeln vernehmen, das irgendwie nicht hierher gehörte. In immer gleichen Abständen durchschnitt es die Stille und verzerrte das Bild des dösenden Niltals zunehmend. Immer lauter werdend, drängte es sich in den Vordergrund und ließ keinen Raum mehr im Kopf. Das Panorama bekam Risse, wie eine Glasscheibe, und zersplitterte in Tausende Einzelteile. Dann war da nur noch dieses Klingeln. Es war das Klingeln eines Telefons ...
Der Skarabäus
Mittwoch, 19.August 1998
Es kam von weit her aus tiefem, dunklem Raum. Ich konnte es nicht einsortieren, woher es kam, und ich wollte es auch nicht wissen. Ich wollte nur meine Ruhe. Aber es ließ sich nicht abschütteln. Ein durchdringender Ton, der sich ins Bewusstsein sägte, dröhnte in meinem Schädel. Mein Wecker klang nicht so, es musste etwas anderes sein, was mich in diese Welt zurückholte. Erst als sich der Anrufbeantworter einschaltete, konnte ich das Folterinstrument identifizieren, das mich so quälte. Noch blind mit geschlossenen Augen tastete ich nach dem Quälgeist auf meinen Nachttisch und nahm den Hörer ans Ohr.
„Menzl, hallo?“ „Erwachet, edler Ramses, ein neues Jahr hat begonnen. Kleopatra wartet auf Euch. Nehmt eure stählernen Flügel und begebt euch auf die Reise zu ihr!“
„Guten Morgen, Johannes!“
„Guten Morgen, Felix! Hast du mich sofort erkannt?“
„Ich weiß nicht, wer sonst noch morgens um sieben Uhr so einen Blödsinn erzählen kann. Dafür braucht man kein Abitur!“
„Schönen Dank auch.“ Das war die Retourkutsche für den frühen Weckruf gewesen, den nur Insider verstanden. Mein Freund Johannes hatte vorgehabt zu studieren, aber dafür fehlte ihm das Abitur. Er hatte auch Ansätze gemacht, im zweiten Anlauf seinen höheren Schulabschluss zu machen, aber aus Angst vor der Prüfung hatte er diesen Traum nie in die Tat umgesetzt. Zugetraut hätte ich es ihm auf jeden Fall, auf den Kopf gefallen war er nicht. Statt dessen war ein exzellenter Allround-Handwerker mit eigener Firma aus ihm geworden. Seine Arbeiten konnten sich sehen lassen. Also kein Grund, sich in überfüllten Universitäten zu quälen und am Ende mit Diplom, aber ohne Job da zu stehen.
Aber wir kannten unsere wunden Punkte gegenseitig sehr genau, es war eine Art Sport für uns geworden, den Finger auf die Wunde zu legen, ohne uns aber tatsächlich wehzutun. Im Gegenzug kannte jeder aber auch die Geheimnisse des anderen.
„Du hast heute Nacht wieder geträumt, oder?“, fragte er besorgt.
„Wenn das Telefon nicht geklingelt hätte, vielleicht sogar mal bis zum Happy End ...“, lenkte ich ab.
„Wenn es eines wird.“
„Mach mir nur Mut. Ich habe mir das nicht ausgesucht. Aber woher weißt du, dass ich geträumt habe?“ Er erstaunte mich immer wieder mit seinen treffsicheren Diagnosen.
„Dafür brauche ICH kein Abitur. Du warst gestern Abend auf deiner Geburtstagsparty nur körperlich anwesend. Als Gabriele dich um Milch für den Kaffee gebeten hat, hast du ihr Ketchup gebracht.“
Jetzt musste ich doch lachen. „Ich hoffe, sie hat ihn nicht getrunken?“
„Meine Frau ist zwar blond, aber sie hat sich vor lauter Kummer um deinen Geisteszustand die Milch selbst geholt. Wann geht denn dein Flieger?“
„Erst heute Abend um sechs. Wie gesagt, wenn das Telefon nicht geklingelt hätte, wäre noch Zeit gewesen zum Ausschlafen ...“
„Mein lieber Felix, die Botschaft ist angekommen. Aber wie du weißt, bin ich viel beschäftigter Handwerker und habe Aufträge zu erfüllen. Also dachte ich, ich wünsch dir noch mal vorher schönen Urlaub.“ Irgendetwas war faul an der Sache, das konnte ich riechen. Schönen Urlaub konnte er mir auch gestern Abend wünschen.
„Johannes, rufst du vom Handy an?“
„Richtig erraten.“
„Und wo bist du jetzt?“
„Auf dem Marktplatz in Geisenheim. Ich sitze auf den Stufen des Domes und schau zu so einem alten Trödelladen gegenüber.“
„Ich habe so was vermutet. Also komm schon rüber.“
Er hatte die ganze Zeit vor meinem Haus gesessen und erst mal die Stimmung geprüft! Ich schob mich aus dem Bett und zog mir schnell Jeans und Pullover an, bevor ich die Treppe ins Erdgeschoss herunter schlurfte. So ganz wach war ich noch nicht, mein Traum ging mir noch immer durch den Kopf. Ich schloss