Ganz für sich allein. Werner Koschan
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Читать онлайн книгу Ganz für sich allein - Werner Koschan страница 17
Wir laufen planlos durch Straßen, die ich nicht mehr erkenne. Ganze Straßenzüge sind mir wildfremd. Irgendwann stehen wir geduckt in einem offenen Hauseingang und drängen uns aneinander, als würde das wenigstens einen von uns beiden schützen können.
Vor uns liegt ein großer, freier Platz, in dessen Mitte ein ungeheurer Krater versinkt. Obwohl Dresden meine Geburtsstadt ist, habe ich nicht die geringste Ahnung, wo wir uns befinden.
Zitterndes Grollen von irgendwo her, explodierendes Krachen in der Nähe, heißer Sturm und blitzende Helligkeit überall. Keine Chance, mich zu orientieren. Zu meinem eigenen Erstaunen denke ich nichts. Bin ich als studierter Jurist nach diesen zwölf Jahren verordneter Dummheit und verlogener Kleinbürgerlichkeit bereits so abgestumpft? Ich spüre nicht einmal Angst. Lediglich eine enorme Spannung in mir lässt das Blut kochen, aber das kann an der hohen Temperatur um mich herum liegen. Die Apokalypse menschlichen Größenwahns, überlege ich, so sieht also das Ende aus. Nicht weit vor mir kracht es berstend. Der Tscheche zieht mich kraftvoll bei einem Schutthaufen zu Boden.
Das ausgebrannte Gerippe eines ehemaligen Hauses stürzt in sich zusammen und wir drücken die Gesichter an die heiße Erde. Ich warte darauf, dass Trümmer, Splitter oder irgendwelche Brocken auf mich fallen würden und halte den Atem an. Genugtuung lässt mich sardonisch lächeln bei dem Gedanken an die Geschichten, die man sich erzählt von den hohen Herrenmenschenherrschaften, die in Berlin täglich in ihren besonders sicheren und außergewöhnlich tiefen Kellern in der Wilhelmstraße 102 und ein Stück weiter, Ecke Voßstraße unter der Reichskanzlei sitzen, und sich mutig mit Drogen ablenken, und sich trotzdem die Hosen vollschissen. Genau vor uns kracht es. Ein Haus zerplatzt funkensprühend und brennende Balken und Möbel landen ringsum. Ich denke, dass uns weniger feinen Volksgenossen die Schadenfreude auch nicht hilft, die wir praktisch ungeschützt verrecken.
Nach einigen endlosen Augenblicken klettere ich hinter dem Tschechen über eine Geröllhalde oder eine Brüstung oder was Ähnlichem ins Freie und stürze mich neben ihm in den Krater und hoffe, dass die Landser recht haben mit ihrer Behauptung, dass niemals eine Bombe oder Granate dahin fällt, wo schon eine hingefallen war.
Ich verharre ein Weilchen fest an den Boden gedrückt. Der Tscheche liegt auf dem Rücken und schaut in den Himmel. Die Einschläge hören sich nicht mehr ganz so nahe an und ich klettere den Trichter aufwärts bis zum Rand. Vor mir steht ein Haus, dessen Straßenschild auf dem Gehweg liegt und ich verspüre urplötzlich den Drang, dort nachzuschauen, wo ich mich denn nun befinde. Vielleicht hilft es ja später etwas, wenn man weiß, wo es einen erwischt hat, denke ich und schwinge mich gerade über den Rand meines Trichters, als jemand meinen Namen ruft. In dem demolierten Schuppen neben dem Backsteinhäuschen erkenne ich meinen Kollegen Blumenthal, er trägt seine kleine Tochter auf dem Arm. Das Kind weint leise wimmernd. Ich laufe schnell zu ihm hin.
»Können Sie mir sagen, wo wir sind?«, frage ich ihn.
»Ich weiß überhaupt nichts mehr. Meine Leute habe ich aus den Augen verloren.« Er scheint erschöpfter zu sein als ich. Der Tscheche hat sich mittlerweile zu uns gesellt. Ein Dachbalken schlägt prasselnd und funkensprühend neben uns auf den Asphalt der Straße. Durch die große Hitze ist der Teer weich geworden. Rund um den Dachbalken brennt er nun. Wenn die Straßen erst mal zu brennen anfangen, wird eine Flucht kaum mehr möglich sein. Ich sehe Blumenthal an.
»Es wird zu heiß, die Straße brennt schon. Wenn der Teer schmilzt, sitzen wir hier fest.« Ein weiterer Balken kracht auf die Straße. Winzige Teerspritzer treffen die Haut sehr schmerzhaft. Mein Gesicht pocht heftig. Seltsam, die Verletzung hatte ich total vergessen. Und nun arbeitet mein Gehirn in eine völlig andere Richtung. So heftig hatte mein Gesicht nämlich zuletzt gepocht, erinnere ich mich, als ich für einen Mandanten den Freispruch vom Vorwurf des Widerstands gegen die Staatsgewalt durchgesetzt hatte. Er hatte am Abend des schwärzesten Montags der Weltgeschichte, dem 30. Januar 1933, auf ein Plakat der NSDAP mit schwarzer Farbe gemalt: ›Heute beginnt der 2. Weltkrieg!‹
Die gegen ihn anstürmenden Braunhemden hatte er sich mit der Waffe in der Hand vom Leib gehalten, bis ordentliche Polizei eintraf. Der hatte er sich ergeben. Und meinem Argument in der Verhandlung, dass Braunhemden an jenem Tag noch keinerlei Staatsgewalt darstellten, ist der Richter gefolgt. Danach habe ich elf Jahre lang nichts mehr von dem Mandanten gehört, bis ich Doktor Faber letzten Sommer in der Pfotenhauerstraße getroffen habe. Aber nach der Urteilsverkündung hatte mein Gesicht vor Freude geglüht, so wie jetzt. Greinen weckt mich aus den Gedanken.
Das Kind weint lauter. Kann ich gut verstehen. Wenn ich ein Kind wäre, würde ich auch weinen. Wohin könnte man das arme Würmchen bloß in Sicherheit bringen? Ich schaue mich um und greife nach Blumenthals Arm. »Mensch, Blumenthal, wir stehen zwar inmitten einer Höllenwüste, aber das Gebäude erkenne ich sogar in dieser Wüste wieder!«
Ich weise mit der Hand auf einen dreistöckigen Bau, welcher kaum fünfzig Meter von uns entfernt steht. Die Fenster der unteren Etage sind in Bogenform verkleidet. Die der ersten Etage zieren aufgesetzte Spitzdächer und die der zweiten Etage sind gerade gehalten. Diese Fassadenanordnung hat mich von jeher belustigt, weil ich beim Anblick der Fassade stets an meinen Kollegen Schibulski aus Berlin denken muss.
Er hatte sich 1927 oder 1928 ein Haus in Spandau bauen lassen und ich hatte ihn in jener Zeit gelegentlich besucht. Während eines Besuches hatte er mich zu seiner Baustelle geführt, um mir stolz den Fortschritt der Arbeiten zu zeigen. Wir standen damals im künftigen Vorgarten und betrachteten den Bau, da trat ein wahrer Koloss mit Kappe und Schnurrbartbürste zu uns.
»Chef, der Rohbau is fertig«, sprach der Berliner Bauhandwerker. »Und wat for ’n Stil soll nu an de Fassade?«
Seitdem muss ich jedes Mal, wenn ich an dem Gebäude der Niederlassung der Dresdner Bank in der König-Johann-Straße 3 vorbeikomme, schmunzelnd an die Begebenheit in Spandau denken. Und nun im Inferno der Bombennacht erkenne ich das Gebäude an eben dieser Fassade. Komische Zufälle gibt es im Leben, man glaubt es kaum.
»Das ist die Dresdner Bank, so viel erkenne ich noch. Die Hakenkreuzflaggen über dem Gebäude sind verbrannt; eigentlich ein gutes Zeichen, aber davon mal abgesehen, ist die Bank solide gebaut. Prima Marmor, brennt überhaupt nicht. Ich war früher mal Kunde dort und hatte sogar einen Tresor. Bevor man mich enteignet hat. Der Keller ist tief und solide, da werden zwar die hohen Herren sitzen, doch wenn wir es wenigstens bis in die Halle schaffen, sind wir vielleicht gerettet. Los jetzt, kommen Sie! Da müssen wir rein!«
14.
Wir stolpern durch Flammen, an glühenden einstürzenden Häusern vorbei und der unsichtbare Sturm zieht uns weiter. Beinahe, als würde man durch einen Windkanal vorangezogen. Es riecht nach morschem Brennholz und Schwefel; wenn es eine Hölle geben sollte, muss es dort genauso riechen. Diesen Geruch werde ich nie mehr in meinem Leben vergessen können. Die Hitze wird immer unerträglicher. Schließlich erreichen wir den sehr stabil aussehenden Eingangsbereich des Bankgebäudes, das wie ein von Arkaden durchbrochener Vorbau wirkt. Vielleicht ist diese Bank, welche den Namen unserer Stadt trägt uns jetzt zu etwas nutze, hoffe ich. Viel geschehen ist dem Gebäude offensichtlich nicht. Die Bombeneinschläge scheinen in dieser Gegend vorläufig vorüber zu sein. Aber die Unzahl der Feuer, die nun lodern, lassen die Tragweite des Angriffs noch viel fürchterlicher erscheinen. Dagegen kommt mir der Angriff von vor ein paar Stunden fast lächerlich vor. Ich habe das Gefühl in einem Amphitheater zu stehen, umgeben von hohen Gebäuden statt Zuschauertribünen, über deren Dächern ein gleißender Lichtschein steht. Überall um uns herum muss es brennen. Einzelheiten sind