Ganz für sich allein. Werner Koschan

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Ganz für sich allein - Werner Koschan

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treu, aber daran bin ich gewöhnt. Irgendetwas findet man ja doch. Und wenn es nur ein paar Blätter Löwenzahn sind, die am Elbufer zumindest im Frühling und Sommer besonders gut gedeihen. An Kartoffeln oder ein Stück Brot kommt man allerdings schwieriger. Tagsüber zu hungern ist beinahe erträglich, hauptsächlich nachts quält mich der Hunger, weil es keine Ablenkung gibt. Tagsüber lastet der geistige Hunger viel schlimmer auf mir. Ich darf mich nicht beim Zeitunglesen erwischen lassen, aber ich mag die Lektüre nicht aufgeben. Natürlich habe ich meine Quellen und bekomme die Morgenzeitung und das Abendblatt vom Vortag in die Hände. Ich verstecke mich dann und lese trotz des Verbotes. Das dürfte Carola niemals wissen, sonst wäre ein Streit unvermeidlich, ich lebe nämlich nur noch, weil sie zu mir hält. Meist lese ich auf einer Friedhofsbank, weil die Kerle dort niemals erscheinen. Sterben ist für die Brut etwas Heldenhaftes, nur die einfachen Toten sind ihnen lästig. In den Zeitungen wird stets von Helden berichtet, daneben wird immer häufiger im Abendblatt exakt das Gegenteil als unwiderruflich festgestellt, was in der Morgenzeitung mit ergreifend glühenden Worthülsen für tausend Jahre unverrückbar im Bleisatz verankert war. Ich schrecke aus den Gedanken auf. Carola spricht mit mir.

      »Ich wünsche, dass du diesen vermaledeiten Kalender nun beiseite legst. Ich ahne, was dir durch den Kopf geht und du weißt ganz genau, dass ich das nicht wünsche!«

      Ojweh. Hätte ich Carola nur nichts von meinen Gedanken erzählt.

      2.

      Draußen ist es stockfinster und ich habe nicht die geringste Ahnung, wie spät es sein mag. Vielleicht ist es neun Uhr abends, vielleicht etwas früher oder später. Ich darf ja keine mechanische Uhr besitzen und meine innere Uhr tickt nicht mehr so richtig - und das nicht nur wegen der im Reich eingeführten Sommerzeit, die helfen soll, den Krieg zu gewinnen. So ein Blödsinn! Der Krieg ist längst verloren! Bloß kann niemand sagen, wie lange seine Agonie dauern wird. Ich schaue hinaus aufs Schloss. Wie war das früher schön, als es hell erleuchtet stand. Nun ist alles stockfinster, eben herrliche Zeiten - auch so eine Phrase.

      Carola hat Tee aufgebrüht. Sie sieht mir wieder mal an, was ich denke. Ich will ja gar nicht, aber es denkt sich ganz von alleine. Das versteht sie nicht.

      »Wer weiß, ob die Gestapo nicht sogar Gedanken lesen kann«, flüstert sie manchmal und schaut mich vorwurfsvoll an.

      Ich höre ja schon auf und nicke ihr freundlich zu. Gleich lege ich den Kalender weg. Komisch, dass die Gedanken mit mir durchgehen, wenn ich das Ding in die Hand nehme. Albert Mitteldorf hatte recht, als er uns im August 1944 zu Carolas Geburtstag besuchte und nach einigen Gläsern Bier - das er selbst mitgebracht hatte - mit lockerer Zunge bemerkte: »Die Herren von der Kunstakademie in Wien hätten den Kerl aus Braunau bei sich studieren lassen sollen. Hätte keinem geschadet, der Welt hingegen wäre vermutlich viel erspart geblieben.«

      Dies stelle ich mir unentwegt vor. Sicherlich würde ich dann immer noch als Rechtsanwalt mit dem Schwerpunkt Strafrecht meine Kanzlei führen. Und zum Privatvergnügen nebenbei am Gymnasium Nachhilfe geben und dem einen oder anderen Schüler Deutsch beizubringen versuchen. Deutsch ist wirklich eine sehr interessante Sprache, obwohl sie in den letzten zwölf Jahren vergewaltigt worden ist.

      Carola gießt den dünnen Tee ein. Den brüht sie nach ihrer ganz persönlichen Methode, denn auch Tee ist Mangelware. Carolas Tee-Methode geht folgendermaßen: Den ersten Aufguss genießen wir am Sonntag. Montag bereitet sie aus zwei Portionen aufbewahrtem Teesatz eine neue Portion Tee. Und heute ist bereits Dienstag. Da färben die Reste das heiße Wasser allenfalls ein wenig. Von würzigem Geschmack will ich da gar nicht erst reden. Lausige Zeit, diese deutsche Heldenzeit - wieder so eine Phrase. Ich lächle Carola möglichst unschuldig an.

      Gestern war ich bei meinem Freund Mäßig zu Besuch, der besitzt einen Volksempfänger und normalerweise wenn ich bei ihm bin, stellt Mäßig den Apparat aus. Ich darf ja nicht hören. Gestern hat er ihn eingeschaltet gelassen.

      »Ich komme später zurück«, hatte ich gesagt, aber Mäßig hatte mich auf einen Stuhl gedrückt und laut gelacht.

      »Bleib hier, Mensch, Kaltenbrunner versucht Hochdeutsch zu sprechen. Hör mal zu. Das klingt, als hätte eine schwangere Elefantenkuh Blähungen.«

      »Wieso schwanger?«, hatte ich wissen wollen.

      Mäßig winkte ab. »Die Stimme klingt so furzig, dass ich den Lulatsch mit den Schmissen in der kantigen Mörderfresse geradezu vor mir sehe! Hahaha.«

      Mäßig hatte eigentlich völlig recht mit diesem Vergleich. Die Nazis sind doch bloße Blender, überhaupt alles in dieser Bewegung ist reines Blendwerk, schlichtester Betrug. Und deswegen würde ich Carola am liebsten offenbaren, dass ich mir sicher bin, dass die Kerle keine Gedanken lesen können. Wäre ja noch schöner. Aber ich halte lieber meinen Mund. Schließlich lebe ich nur noch, weil ich mit ihr verheiratet bin; nein andersherum, sie mit mir, denn ich genieße den Schutz des Halbjuden durch die Ehe mit einer reinrassigen Arierin. Welch ein idiotischer Begriff! Man muss Massel haben, wenn man den Tod überleben will. Rosenzweig hatte Pech, seine arische Ehefrau war von einer dieser komischen Bomben erschlagen worden.

      Ich kann mich genau daran erinnern. Am 8. Oktober war das, im vergangenen Jahr. Dazu an einem Sonntag. Im ganzen Reichsgebiet wurde ein Wehrertüchtigungstag veranstaltet, in dessen Verlauf der Jahrgang 1928 sich als Kriegsfreiwillige melden sollte. Ein Kindergarten, angeführt von ein paar Hitlerjungen mit Befehlsbefugnis, marschierte durch die Stadt und passenderweise gab es den ersten Luftangriff auf Dresden.

      Was haben wir gestaunt, als wir aus den Kellern kamen und entdeckten, dass überhaupt nichts zerstört war, sondern lediglich eine Menge Zeitungen im Kleinformat auf den Straßen herumflatterten. Die durfte man selbstverständlich nicht behalten, sondern musste sie sofort abgeben. Gelesen haben wir sie trotzdem und danach sprach es sich unter der Hand herum, dass wahrhaftig diese alliierten Teufelskerle ihr Leben eingesetzt hatten, um Propagandabomben auf uns niederregnen zu lassen, die nicht Tod und Verderben brachten, sondern alliierte Informationen zum Stand des Krieges. Eine dieser Propagandabomben hatte Rosenzweigs Frau sehr unglücklich getroffen und getötet. Und ihn, als nun nicht mehr durch die Ehe beschütztem Juden, hat man umgehend ins KZ geschickt. Gehört habe ich nichts mehr von ihm.

      Jeden Tag, wenn ich den Kalender zur Hand nehme und einen überlebten Tag ausstreiche, besteigen mich diese Gedanken. Und das meine ich genau so, denn es bedrückt nicht nur. Das mag auch daran liegen, woher ich den Kalender habe. Bierlos hat ihn mir nämlich geschenkt. Bruno Bierlos. Am Silvesterabend. Habe ich mich schon beinahe dran gewöhnt, obwohl ich weiterhin ›Rosch ha-Schana‹, unser Neujahrsfest feiere. Zumindest begehe ich dieses Fest still und leise mit mir selbst.

      3.

      Bruno Bierlos. Sehkraft wie ein Maulwurf. Trotzdem übersahen seine klugen Augen hinter den minus 8 Dioptrien starken Gläsern auf der Stupsnase nichts Wesentliches. Als 1933 der Schulsport völkische Pflicht wurde, hat er sich vom Kletterseil fallen lassen und sich eine Hüfte gebrochen. Er hinkt infolgedessen leicht, und war seitdem von zumindest der vormilitärischen Pflichtübung der Körperertüchtigung befreit. Dass er sich bewusst fallen lassen hatte, konnte man ihm nie beweisen. Keiner der neuen Helden nahm ihn für voll, denn er grölte keine Parolen. Allerdings brachten ihm seine schlagfertigen Argumente gelegentlich Prügel ein. Er galt als Außenseiter. Aber sein Gehirn war aufnahmefähig wie ein feuchter Schwamm.

      Seit Mitte der Zwanzigerjahre war die Arbeitslosigkeit gestiegen und der Staat konnte sich kaum Lehrkräfte leisten. Es herrschte reichsweit Lehrermangel und ich gab deswegen zu meinem eigenen Vergnügen und völlig kostenlos Nachhilfestunden in Deutsch am Gymnasium.

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