Ganz für sich allein. Werner Koschan

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Ganz für sich allein - Werner Koschan

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Vielleicht ist es besser so.«

      »Wenn es vorbei ist, können Sie ihn ja zurückholen. Apropos, endlich Entwarnung. Für diesmal ist es wieder vorbei! Sowieso sonderbar, Gauleiter Mutschmann hat gerade erst großspurig versichert: ›Dresden ist tabu!‹«

      Bruno öffnete die Bunkertür. Die ersten Leute verließen den Schutzraum und traten in die Dunkelheit. Wahrscheinlich hatte Leipzig den Segen abbekommen. Die armen Schweine. Wir traten hinaus auf die Schlossstraße, viele Menschen hasteten an uns vorbei. Bruno hielt mir die Hand entgegen.

      »Da fällt mir etwas ein, Herr Doktor. Sagen Sie mal, was machen Sie zu Silvester?«

      Brunos lockere Art ließ mich gedankenlos drauflosplappern.

      »Kommt darauf an, was wir zu essen organisieren können. Ansonsten abwarten und Tee trinken. Und vor allen Dingen auf andere Zeiten hoffen.«

      »Was halten Sie von einem 37er Johannisberger? Original Kellerabzug. Genau das Richtige, um den Wechsel in ein besseres Jahr zu feiern.«

      Ein hohes Stimmchen meldete sich hinter uns. »Was meinen Sie mit besserem Jahr, Freundchen? Sie sollten lieber eine Knarre in die Hand nehmen und an der Front das Vaterland verteidigen, als sich hier herumzudrücken und miesmachen!« Bruno betrachtete den Mann, zu dem das Stimmchen gehörte und der den Existenzknopf auffällig am Revers trug. Dann hinkte Bruno einen Schritt auf ihn zu. Die Augen des Parteigenossen (PG) wanderten verächtlich an Bruno hinab. »Ach so einer sind Sie. Haben Sie sich das wenigstens im ehrlichen Kampf fürs Vaterland zugezogen?«

      »Nein, ich hinke seit meiner Geburt. Zufrieden?«, log Bruno.

      Das Parteimitglied wuchs. »Nicht diesen Ton, Sie Subjekt! So, so, nicht nur ein Deutscher, der mit einem Juden feiern will, sondern darüber hinaus ein minderwertiges Element, der Hamsterwaren besitzt, was! Vergasen sollte man solch einen Kerl wie Sie. Die Geburtskrüppel sind noch unser Untergang! Vergasen! Alle vergasen!«

      Brunos Stimme durchschnitt die Luft rasiermesserscharf: »Achtung! Alle mal herhören! Ich werde das melden. Achtung, dieser Mann hat den Reichspropagandaminister schwer beleidigt! Stehen bleiben, Leute, ich brauche Zeugen!«

      Der Volks- und Parteigenosse zuckte. Einige Leute blieben tatsächlich stehen. Wunderten sich, dass jemand laut wurde. Durch das Interesse einiger fühlten sich zunehmend mehr Leute angezogen, die Zahl der uns umgebenden Zuschauer stieg.

      »Aber ...« Der Parteigenosse stemmte die Fäuste in die Hüften. Von einem Blockwart ließe er sich nicht derart anfahren. »Was erlauben Sie ...«

      Nun schrie Bruno: »Was fällt Ihnen ein?! Name, Anschrift! Sie wollen die Hinkenden vergasen, damit haben Sie ganz offensichtlich unsern allseits geliebten Minister Goebbels gemeint. Kerl, mit Ihnen machen wir kurzen Prozess! Muss sofort eine Streife her!« Bruno zückte die Trillerpfeife und hob sie zum Mund.

      Entsetzen beherrschte nun das Gesicht des PG.

      Eine Frau mit erloschenen Augen trat aus der Zuschauermenge nah zu uns. »Das ist Kurt Schmidt. Wohnt in Schössergasse Nummer 12, zweiter Stock. Ich wohne ebenfalls dort in einem Zimmer, Tiefparterre. Kurt Schmidt ist aus tiefster Berufung Denunziant. Meinen Mann hat er auch auf dem Gewissen. Ich habe gehört, was er gerade über unseren Propagandaminister gesagt hat und werde es vor jedem Gericht bezeugen.« Sie blickte ihm aufrecht ins Gesicht. »Du glaubst gar nicht, wie ich die Angst in deinen Augen genieße, Kurt. Darauf warte ich seit Jahren und ich habe immer noch das dringende Bedürfnis, dich anzuspucken. Aber meine Spucke ist für deine Visage viel zu schade.« Sie spuckte vor die Füße des PG und verließ uns durch den sich langsam öffnenden Kordon der Zuschauer. Sie wirkte wie eine Fee. Elfenhaft beinahe, als schwebe sie auf einer Wolke.

      Bruno wirkte wie in der Schule, wenn er wieder mal irgendeinen Schreihals vor versammelter Mannschaft an die Wand geredet hatte.

      »Ich werde bei der SS über Sie Meldung machen, Herr Schmidt. Ist jemand von Ihnen ...«, Bruno wandte sich an die Umstehenden, »ist jemand bereit, mich als Zeuge zur SS zu begleiten?« Im gleichen Augenblick war die Menge auseinander. Die zwei Begriffe Zeuge und SS hatten genügt, dass die Leute davoneilten. Bruno sprach nun zum PG. »Eine Zeugin ist ausreichend, Herr Schmidt. An Ihrer Stelle würde ich so schnell wie möglich verschwinden. Freuen Sie sich inzwischen auf die Befragung! Ich denke, dass die Beleidigung des Ministers strikt bestraft werden wird. Die Guillotine ist von der SS seit Langem als viel zu human abgeschafft. Die neueren Methoden haben die Herren sich bei der Kirche abgeschaut, obschon hier bei uns die Leute bislang nicht lebendig verbrannt werden, glaube ich. Aber auch in Sachen Hängen sind die Herrschaften hoch motiviert. Zur Abschreckung natürlich nur, schließlich sind wir ein Volk von Herrenmenschen. Hauen Sie ab, ich denke, morgen früh wird man Sie abholen! Na los, oder sollen wir das direkt erledigen?« Bruno hob erneut die Pfeife an die Lippen. So viel Brutalität hätte ich Bruno gar nicht zugetraut.

      Der Mann verließ den Platz mit hängenden Schultern. Ein lebender Kadaver.

      »Musste das sein?«

      »Ja. Der Kerl würde uns ohne mit der Wimper zu zucken anzeigen und mit Genuss aufs Schafott bringen.«

      »Und was geschieht nun? Willst du wirklich eine Anzeige machen? Die arme Frau da mit hineinziehen? Außerdem glaube ich nicht, dass man einen Parteigenossen wegen einer solchen Lappalie aufhängen wird.« Ich tippte auf meinen Stern. »Ich möchte mit denen nichts zu tun haben.«

      Bruno schaute sich nach allen Seiten aufmerksam um und vergewisserte sich, dass niemand mehr zugegen war. »Machen Sie sich mal keine Sorge, glauben Sie, ich will mit denen was zu tun haben? Ich werde dem Scheißkerl morgen früh erneut gut zureden. Leute, wie der, machen mittlerweile jede noch so widerliche Sauerei, bloß damit sie wenigstens ein Weilchen weitermachen können. Die wissen ganz genau, dass es mit ihrer Narrenfreiheit bald vorbei ist und dass sie dann womöglich zur Verantwortung gezogen werden. Seit dem 20. Juli hoffen ein Haufen einfacher Leute wieder und trauern nur darum, dass Hitler nicht im Sarg herausgetragen wurde.«

      Obwohl die Worte lebensgefährlich waren, musste ich nach Monaten zum ersten Mal lächeln. Wortwitz à la Bruno Bierlos.

      5.

      Am Silvesterabend 1944 erschien Bruno mit zwei Flaschen Wein und einer Schallplatte unter dem Arm, sowie einem gehäuteten Kaninchen ohne Kopf in einem Blatt Zeitungspapier. Unwillkürlich musste ich an Mäxchen denken. Statt Kaninchen waren schon im letzten großen Krieg viele Katzen gegessen worden. Das war sicherlich in unserer Zeit herrlicher Größe nicht wesentlich anders. Dazu gab es Bratkartoffeln mit Zwiebeln. Obwohl es nirgendwo Zwiebeln zu geben schien. Man tuschelte, dass aus Zwiebeln irgendein kriegsentscheidendes Gas hergestellt würde, als Pendant zum Senfgas oder so ähnlich.

      So unglaublich es auch klingen mag, trotzdem hatte ich Zwiebeln aufgetrieben. In der Ziegelstraße, Ecke Elias-Platz neben dem Friedhof. Am Silvestermorgen hatte dort ein Handkarren gestanden, auf dem Grünkohl, Kartoffeln und Mohrrüben lagen. Neben dem Karren stand eine an sich jung wirkende Frau mit dennoch bereits schlohweißem Haar. Unsere großartige Zeit hatte sie wohl so früh vergreisen lassen. Sie verkaufte das Gemüse. Ich betrachtete die Mohrrüben und konnte mich nicht erinnern, wann ich solche Köstlichkeiten zum letzten Mal gegessen hatte.

      Wir lebten seit Jahren nur auf Carolas Karten und was es dafür zu kaufen gab, reichte kaum für sie allein. Mir wurde schwindelig. Wie sehr kann Hunger einem das Gehirn vernebeln.

      Eine andere Frau, die ein buntes Tuch um ihren Kopf geschlungen hatte und ein Fahrrad

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