Ganz für sich allein. Werner Koschan

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Ganz für sich allein - Werner Koschan

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es nicht klappen. Aber in fünf, sechs Wochen sind die Strukturen völlig erledigt. Glauben Sie im Ernst, dass unter dem Umstand irgendwer nach Papieren fragt?«

      »Papiere werden in Deutschland immer wichtiger sein als alles andere«, warf Carola ein. »Hat Brecht schon 1940 vorhergesehen: ›Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen. Schließlich kommt er auch nicht auf so einfache Weise zustande, wie ein Mensch ... Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.‹ Hat Brecht gesagt.«

      »Stimmt. Brecht muss es ja wissen, letztendlich ist er ja ausgebürgert worden. Und wenn dieser Winter vorbei ist, dürfte für kurze Zeit jegliche Administration im allgemeinen Zusammenbruch unüberschaubar sein. Dann braucht es in der Stadt, in der man gerade ist, bloß einen Volltreffer im Rathaus. Ohne Listen und Unterlagen sind Beamte absolut hilflos. Vielleicht gibt es mal einen Angriff auf uns und vielleicht einen Volltreffer hier im Block. Vielleicht nicht gerade in dem Keller, in dem Sie hocken, aber irgendwo in der Nähe, dann nichts wie weg! Wenn ich selbst nicht so ein Scheißpech gehabt hätte, wäre ich längst in Sicherheit.« Bruno wirkte richtig wütend.

      »Was für ein Pech?«

      »Nachdem ich 1935 durchs Abitur gerasselt war, bin ich abgehauen.«

      »Du bist durchs Abitur? Weswegen?«

      »›Nicht genügend‹ in Deutschtümelei und das hat man mir übel genommen. Ich bereue trotzdem nichts. Ich habe in Antibes als Barmixer gearbeitet, meine Longdrinks waren der Geheimtipp dort.«

      »Wo?«

      »In Antibes. An der Côte d’Azur. Das ist ein ganz kleines Fischerdorf zwischen Nizza und Cannes. Dort gibt es kaum Deutsche, nur Einheimische und im Winter ein paar Engländer. Die waren ganz verrückt auf meine Drinks.«

      »Antibes kennen wir. 1930 waren wir mal dort, ein netter Hafen mit der Burg darüber. Erinnerst du dich daran, Carola? Meinen 23. Geburtstag haben wir in Cannes gefeiert, weil ich kurz vorher von der sicher in Aussicht stehenden Verleihung meines Doctor iuris utriusque erfahren hatte.«

      »Doktor was in was?«, fragte Bruno.

      »Das bedeutet Doktor beiderlei Rechts, des kirchlichen und des weltlichen. Ich fühlte mich stolz wie Oskar. Natürlich weiß ich genau, dass mein Mentor Professor Grünbaum daran gedreht hatte, obwohl er es nie zugab. Na, auf jeden Fall hat er gedrängt, dass wir den künftigen Titel gemeinsam mit meinem Geburtstag in Cannes feiern müssten. Das haben wir gemacht, und zwar im gerade neu eröffneten ›Majestic‹ an der Croisette. Und während dieser Tage sind wir mal in Antibes gewesen. Warum bist du denn nicht dort geblieben?«

      »Na, wegen dem Scheißkrieg!«

      »Bruno, wenn schon, dann sag gefälligst wegen des Krieges! Kein Wunder, dass du durchs Abitur gefallen bist. Was hattest du denn mit dem Krieg zu tun?«

      »Na, ich war noch Deutscher. Mein Einbürgerungsverfahren lief zu der Zeit und irgendwann im September 1939 hätte ich meine französische Staatsbürgerschaft erhalten.«

      »Der Krieg hat doch erst im September begonnen.«

      »Richtig. Aber französische Freunde hatten mich gewarnt, dass, wenn Paris dem Reich den Krieg erklärt, wäre ich als Deutscher plötzlich auch der böse Feind. Und meine Freunde vermuteten weiter, dass die Franzosen alle bösen Feinde zunächst mal vorsichtshalber in Internierungslager stecken würden. Darauf hatte ich nun gar keine Lust und bin Anfang August in die Schweiz abgedampft, schwarz über die Grenze. Das hat den Schweizern hingegen nicht gefallen, und die haben mich nach Deutschland abgeschoben.«

      »Und?«

      »Nichts und. Ein paar Monate Untersuchungshaft wegen Reichsflucht. Im Knast habe ich für die Wachen Drinks gemixt, die waren begeistert und haben mir geholfen, wo sie nur konnten. Nach der Freilassung habe ich dann in einer Fernmeldeeinheit der Wehrmacht im Offizierskasino den Barmixer gespielt. Meine Drinks waren dort genauso der Hit wie in Antibes und ich war praktisch vor jeglicher Nachstellung sicher. Im Mai 1940 ging es mit denen nach Belgien und als Clou habe ich am 22. Juni in Compiègne die Drinks zum Abschluss der Waffenstillstandsverhandlungen gemixt.«

      »Du? Das gibt es nicht! Du bei jenen hohen Herren?«

      »Ja. Scheißplatte, ist schon wieder zu Ende. Na gut, lassen wir eben die Rückseite laufen. So, na also. Wo war ich? Ach ja, hat ja niemand gewusst, dass ich so gerne ein Franzose wäre! Und ich habe mir gedacht, in der Höhle des Löwen wird mich der Löwe wohl nicht vermuten. Ganz einfach. Und in Paris habe ich von einem süßen Mädchen französisch sprechen gelernt wie ein Pariser. Die Kleine hat im Widerstand mitgemischt und ich habe ihr alles erzählt, was ich im Kasino gehört hatte. Besoffene Offiziere reden ziemlich viel. Françoise, so hieß das Mädchen, wollte mir helfen, mich ins unbesetzte Frankreich schaffen und mir auf den Namen Gérard Courvoisier französische Papiere besorgen. Courvoisier, weil ich diesen Cognac als Grundlage meiner Drinks benutzte. Zu Weihnachten 1942 sollte es so weit sein. Ja, Scheiße!«

      »Bruno!«

      »Nix, Bruno. Im November hat dann die Wehrmacht mit der Besetzung der Südzone Frankreichs begonnen. Und somit hatte ich erneut Pech. Es war unmöglich, so schnell unbemerkt die Seiten zu wechseln. Und als sich die Zeichen einer alliierten Landung in Frankreich mehrten, rieten mir meine französischen Freunde, nach Dresden zurückzukehren. Sie würden sich melden. Und so bin ich hier gelandet. Wenn irgend möglich, möchte ich nach Antibes, bevor der Krieg zu Ende ist. Denn danach wird man uns bestimmt eine ganze Weile nicht aus Deutschland rauslassen, aber ich will dort unten leben. Das Essen, die Frauen und die Sprache haben es mir angetan. Abhauen werde ich auf jeden Fall. Und wenn es in der Nähe einen Volltreffer geben sollte, wird Bruno Bierlos nicht mehr existieren, Gérard klingt wesentlich besser. Wenn es mal im Hause kracht, sollten Sie besser anderswo in einem Keller überleben. Na ja, kann man ja nicht vorhersehen.«

      Der Marsch war leider zu Ende. Komisch, dass ausgerechnet ich dies bedauerte, wo ich doch Militär, Fahnen und Marschmusik für das Dümmste halte, was es gibt.

      »Jawohl, Herr Doktor, Sie haben recht!«, rief Bruno überlaut. »Wenn erst die neuen Waffen des Führers da sind, werden wir es den Kerlen ordentlich zeigen. Ich wünsche ein siegreiches neues Jahr. Ich werde nun die Verdunkelung im Block kontrollieren. Zunächst einmal muss ich pinkeln. Kommen Sie, Herr Doktor, lassen Sie uns eine gute deutsche Eiche düngen.«

      Ich folgte Bruno Bierlos. Jeder Horcher hätte gewusst, einem Blockwart stellt man sich besser nicht in den Weg.

      »Meinst du wirklich«, fragte ich Bruno draußen, »es ist gut, einen Juden aufzufordern, eine deutsche Eiche zu düngen? Schadet womöglich der Stämmigkeit, oder?«

      Bruno schwieg einen Moment lang. »Also die Verordnung ist bislang nicht raus. Wer weiß, aber ich wollte Ihnen unbedingt etwas zeigen.«

      Brunos Wasser plätscherte die Eichenrinde hinunter. Bruno schaute sich zunächst sorgfältig um und dann an mir hinunter.

      »Sie sind beschnitten, Herr Doktor, bedeutsam in unserer großen Zeit. Tja, ich habe auch etwas zu bieten, sehen Sie nur.«

      Ein Mann schaut nicht so leicht weg, dachte ich, und blickte an Bruno hinab und wollte es nicht glauben. Der Anblick verschlug mir den Atem. Ich schaute wieder in Brunos Augen und atmete tief aus.

      »Du bist beschnitten?! Kein Mensch wird einem beschnittenen Mann einen öffentlichen Posten in Deutschland verschaffen können. Und wieso bist du jetzt Blockwart?«

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