Ganz für sich allein. Werner Koschan
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Читать онлайн книгу Ganz für sich allein - Werner Koschan страница 11
In meinem Schnapsnebel erreiche ich die Frau, stoße sie ebenfalls zu Boden, zerre sie an den Haaren empor. »Nehmen Sie gefälligst Ihr Kind auf den Arm!«
»Es ist nicht mein Kind!«, schreit sie. Sie ist jung, gesund und wirklich ungewöhnlich schön. Sie will nichts weiter auf dieser Welt als leben. Sie will mit dem Kind nichts zu tun haben wollen.
»Mammele!«, schreit es erneut.
Die Bestie, die mir den Befehl gab, steht neben uns und schlägt die Mutter mit der Gerte quer durchs Gesicht. Blut rinnt vom Auge über die Nase zum Kinn. »Du jüdische Hure! Nicht dein Kind? Ich zeig’s dir, du Hure!« Viel zu oft benutzt die Hässliche in Uniform diesen Begriff. Ich spucke ihr meine Schnapsrotze ins Gesicht und wende mich angeekelt ab. Jetzt ist es genug, ich spiele nicht mehr mit.
»Unterführer!«, kippt die blecherne Frauenstimme mir nach. Ich winke ab und gehe weiter. Ein Schuss knallt, ein weiterer und ein dritter. Mich trifft keine Kugel und darüber bin ich traurig. Der silberbeschlagene Dicke stellt sich mir in den Weg.
»Machen Sie keinen Unsinn! Gehen Sie auf Ihren Posten zurück! Dies ist nun mal unser Beruf.« Er lächelt mich jovial an. Tja, denke ich, das ist unser Beruf und wende mich tatsächlich zu meiner eigenen Verwunderung der Frau, nein, dem weiblichen Biest in Uniform zu. Sie zielt mit der Pistole auf mich, zu ihren Füßen liegt die Schöne neben dem Kind. Ich lächle, denn meine Rotze tropft ihr vom Kinn.
»Für diese Heldentat bekommen Sie garantiert einen Orden, Frau ...«
»Sturmführerin, nicht Frau!«
»Ja, damit haben Sie ganz bestimmt recht. Von Frau kann bei Ihnen wahrhaftig keinerlei Rede sein.«
Lautes Gelächter aus den umstehenden Männerkehlen rettet mir leider das Leben, denn sonst hätte sie mich unweigerlich erschossen. Wirklich schade, das wäre so einfach gewesen. Sie steckt die Waffe ein. »Darüber reden wir später, Unterführer!«
»Herr bitte, so viel Zeit muss sein!« Wieder habe ich die Lacher auf meiner Seite und begebe ich zurück zum Waggon, lehne mich erneut an und hole meine Feldflasche hervor, nehme zwei, drei tiefe Züge; der billige Wehrmachtfusel brennt wie Feuer. Der Anfall ist vorbei. Mich wird nichts mehr erschrecken.
Von überall her schleppt man Leichen herbei. Große, kleine, dicke, dünne, sogar nackte Kadaver. Offenbar haben sogar die ›Reisenden‹ bei den Toten zugelangt. Einfach unglaublich, die menschliche Rasse. Der Berg mit den Leichen wächst bedrohlich. Hoffentlich war dies der letzte Zug, sonst müssen wir mit dem Verbrennen beginnen, bevor die Lebenden abtransportiert sind. Dann wird es erfahrungsgemäß schwierig, sie ruhig zu halten, denn der Berg der Toten bewegt sich bereits, stöhnt und heult. Auch einige Scheintote sind inzwischen zu sich gekommen. Einer hat sich sogar aus dem Totenberg hinausgewühlt und steht fassungslos daneben. Ihn hat offenbar noch niemand bemerkt, denn der Motor des letzten Lastwagens springt stotternd an und ruckt los.
»Halt! Halt!« Von Weitem brüllen zwei Helfer. »So halt doch, zum Teufel!«
Aber der Wagen verschwindet in der Staubwolke. Die beiden tragen ein Mädchen, dem das rechte Bein ganz fehlt. Das linke reicht nur bis zum Knie. Die Männer zerren das Kind an den Händen hinter sich her, der längere Beinstumpf schleift blutig über den Schotter. Tränen haben Rinnen auf das staubige Kindergesicht gezeichnet. »Lieber Gott, hilf mir, das tut so weh! Hilf mir bitte!«
Man wirft sie zuoberst auf den Leichenberg. Ihr Weinen geht im Jammern des Berges unter. Der Mann, der sich aus dem Berg gewühlt hat, trägt einen dunklen Straßenanzug und macht sich an dem Berg zu schaffen, als würde er den ordnungsgemäßen Zustand zu kontrollieren haben. Der Kerl imponiert mir in seiner somnambulen Verzweiflungshaltung, denn wirklich niemand nimmt Notiz von ihm.
Es wird wohl heute kein weiterer Transport mehr erwartet, denn vier Hiwis erklettern den Berg. Sie tragen Benzinkanister und leeren sie über den Menschenleiberberg. Drei Helfer rutschen zurück auf den Schotter, der vierte stolpert oben auf dem Leiberberg, schlägt hart mit dem Kopf auf seinen Kanister und rührt sich nicht mehr.
»Lasst ihn liegen, ist eh wurscht«, sagt der silberbehangene Dicke. »Achtung, zurück!«, ruft er und wirft einen übergroßen Fidibus auf den Berg. Der Mann im Straßenanzug rennt so schnell er kann von dem Leiberberg weg in unsere Richtung. Das ist ein Fehler, mein Junge, denke ich. In die andere Richtung hättest du verschwinden sollen. Der unerhört laute Knall, mit dem das Benzin explodiert, weckt mich aus der Trance auf.
»Wer sind Sie denn?«, fragt der Dicke den Mann im Straßenanzug. »Da kriegst du die Motten.« Ein Kamerad zückt bereits die Waffe, aber der Dicke hält seinen Arm fest. »Nee, lassen Sie mal, uns fehlt doch einer.« Er weist mit der anderen Hand auf den lichterloh brennenden Leichenhaufen und wendet sich an den Kamerad mit der großen Papptafel. »Der hier ist jetzt Nummer hundert, dann müssen wir die Listen nicht ändern. Los, in die Reihe mit dir, du Hundsfott. Heute ist dein Glückstag und dann gleich raus aus dem Anzug und ab in richtige Klamotten.«
Dutzende Männerkehlen lachen.
Es ist vorbei! Mein Herz schlägt wie ein Hammer im Kopf, mein Magen gibt alles her, was in ihm steckt und ich wanke in unsere Baracke, klettere auf meine Pritsche und träume vom Tod.
10.
Ich falte den Brief, stecke ihn zurück ins Schweißband des Hutes und verlasse unbemerkt das Haus. Wo ich langgehe, weiß ich nicht. Ich sehe nicht die Straßen, nehme keinen Menschen wahr, sondern stelle mir nur das Grauen plastisch vor. Irgendwann sitze ich am Elbufer auf einem vermodernden Baumstamm und lese den Brief noch einmal.
Tief in Gedanken versunken wandere ich anschließend das Elbufer entlang. So, wie im Brief geschildert, wird dann ja vermutlich ebenso mein Transport enden. Nehmen wir mal an, am Freitag muss ich mich wirklich melden, somit macht es keinerlei Sinn, irgendetwas mitzunehmen oder gar einen Koffer zu packen - den Koffer eines Juden. Nichts mehr wert. Und mit Carola darüber zu reden macht ja auch keinen Sinn, sie wird schon früh genug merken, wenn ich nicht mehr wiederkomme. Soll ich ihr vielleicht von diesem Brief erzählen? Was würde ihr dieses Wissen nützen? Wem nützt es überhaupt, etwas zu wissen? Gut, in normalen Zeiten hieß es, Wissen sei der einzige Vorrat, der sich bei Gebrauch vermehrt! Aber jetzt und hier? Jetzt und hier ist es besser, wenn niemand etwas wüsste. Jeder, der irgendetwas weiß, läuft unweigerlich Gefahr, selbst dranzukommen, überlege ich und zerreiße den Brief in ganz kleine Schnipsel und werfe sie nach und nach in die Elbe. Was habe ich denn davon, ob später mal Rache geübt wird? Nichts. Kriege ich ohnehin nicht mit. Und was nützt es den anderen, dass ich weiß, wohin am Freitag die Fahrt geht? Mir nützt es insoweit, dass ich gar keine Angst mehr habe; komisch, wo ich doch solch ein Feigling bin, nein, war.
Carola staunt nicht schlecht, als ich ihr das Brot und die Brötchen gebe. Von Ehrhardts Warnung und dem Brief erzähle ich ihr nichts. Ich bin mit mir vollkommen im Reinen, beinahe sogar vergnügt.
Wir essen jeder ein ganzes Brötchen und trinken dazu den dünnen Tee. Ich erzähle Carola von meinem obligatorischen Spaziergang über den Schlossplatz bis zum Elbufer, den ich heute gar nicht