Schattenschwestern. Maya Shepherd
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Sie rollte mit den Augen, wobei ein amüsiertes Lächeln ihre Lippen umspielte. „Eure Mutter spricht nicht oft über mich, oder?“
Ich runzelte verständnislos die Stirn.
„Mein Name ist Rhona. Ich bin deine Tante und zu deinem Glück auch noch Anwältin. Ich werde dich im Prozess vertreten und nun setz dich bitte!“ Ihr Tonfall war freundlich, aber bestimmt. Wage erinnerte ich mich an eine Tante, die ich einmal bei meinen Großeltern kennengelernt hatte. Ich nahm an, dass wir einander nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatten. Obwohl ich zwar wusste, dass Mum eine Schwester hatte, war sie nie Gesprächsthema in unserem Haus gewesen. Es gab keine Geschichten aus ihrer gemeinsamen Kindheit oder Jugend.
Zögernd nahm ich Rhona gegenüber Platz. Sie verschränkte ihre Hände auf dem Tisch und sah mich herausfordernd an. „Und? Hast du es getan?“
Die Art wie sie die Frage stellte, beunruhigte mich. Sie war zwar meine Anwältin und auch sicher im Auftrag meiner Eltern hier, aber dennoch misstraute ich ihr. Auch wenn sie meine Tante war, blieb sie eine Fremde.
„Du musst mir die Wahrheit sagen, wenn ich dich verteidigen soll“, bohrte sie nach.
„Ja“, stieß ich schließlich hervor und sah ihr in die grünen Augen, die von getuschten Wimpern eingerahmt waren. „Ich habe Will umgebracht.“
Sie notierte sich etwas auf ihrem Block und sah dann wieder auf, als wäre nichts gewesen. „Gab es Zeugen?“
Mona und ich hatten ihn gemeinsam erstochen, aber es war meine Idee gewesen. Unmittelbar danach war ich auf Lucas gestoßen, dem ich alles gestanden hatte. Ich werde nie die Abscheu in seinem Blick vergessen. Er hatte das Monster in mir gesehen. Er war es auch, der die Polizei verständigt und einen Krankenwagen für Mona gerufen hatte. Sie war zusammengebrochen und ich hatte sie einfach liegen lassen. Das Einzige, was mich interessiert hatte, war zu wissen, ob mein Plan aufgegangen war. Liam musste leben, um den Fluch zu brechen, der meine Schwester von mir fernhielt. Nun gab es keinen Jägersfluch mehr und trotzdem hatte sie mich nicht ein einziges Mal besucht.
„Mona und Lucas“, murmelte ich schuldbewusst. Sie schrieb erneut auf ihren Block und sagte dann leichthin: „Ich werde mich darum kümmern.“
„Was soll das heißen?“, fragte ich verwirrt.
„Lucas ist der Junge, der neben euch wohnt, oder?“
Ich nickte.
„Ich werde mit ihm sprechen. Er wird nicht gegen dich aussagen, genauso wenig diese Mona.“ Ich verstand nicht wie sie sich da so sicher sein konnte. Was hatte sie vor? Wollte sie ihnen Schläger auf den Hals hetzen, nur um zu verhindern, dass sie eine Aussage gegen mich machten?
„Was hast du vor?“
Sie lächelte mich wissend an. „Mach dir darüber nur keine Sorgen“, sagte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung und beugte sich näher zu mir über den Tisch. „Trinkst du genug?“, raunte sie, als wäre es ein Geheimnis.
„Ich bekomme jeden Tag drei Mahlzeiten“, erwiderte ich, spürte aber gleichzeitig wie die Schatten an mir rissen. Ich hatte es noch nie so lange ohne Gefühle anderer ausgehalten. Wenn ich mir nicht bald welche nehmen würde, könnte es passieren, dass ich mich vor den Augen der Polizei in Luft auflöste, nur um irgendwo anders wieder aufzutauchen. Ich würde völlig die Kontrolle darüber verlieren. Im schlimmsten Fall würde ich jemanden völlig aussaugen, so wie ich es bei Beth getan und sie damit umgebracht hatte: Der Anfang meiner Misere.
Sie legte mir plötzlich ihre kalte Hand auf meine Finger und sah mir eindringlich in die Augen. „Ich weiß, was du bist.“ Ich erstarrte und blickte sie ungläubig an. Wie konnte die Schwester meiner Mutter etwas über mein Schattendasein wissen? Hatte Winter mit ihr gesprochen und sie eingeweiht?
Rhona sah mein geschocktes Gesicht und schüttelte den Kopf. Ihre Hand umschloss sich mit meiner. „Trink!“, forderte sie und starrte mir weiter in die Augen. Ich vertraute ihr nicht, aber mein Hunger war größer und so begann ich ihre Gefühle in mir aufzunehmen. Sie waren völlig anders, als alles, was ich bisher in einem anderen Menschen gespürt hatte. Eine tiefe Dunkelheit überschattete jede andere Emotion. Nur dazwischen blinkten wie Glühwürmchen in der Nacht andere Gefühle hervor: Schuldgefühle, Eifersucht und Wut. Sie schmeckte kalt und ich sehnte mich nur noch mehr nach Lucas‘ Wärme. Wenn ich von ihm getrunken hatte, war ich mir immer seiner bedingungslosen Liebe bewusst gewesen. Erst in den letzten Wochen hatte er sich von mir abgewendet. Als ich mich von Rhona löste, war mein Hunger etwas gestillt. Für einen Moment wirkte sie orientierungslos, doch dann richtete sie sich abrupt auf und richtete ihr Kostüm. „Ich komme bald wieder“, versprach sie und klopfte gegen die Tür, um dem Polizisten zu verstehen zu geben, dass sie hier fertig war. Sie ging, ohne sich noch einmal nach mir umzusehen und ließ mich mit einem verwirrten Gefühl zurück. Ich hatte so viele Fragen an sie und wusste nicht, wie ich sie einordnen sollte. Konnte ich ihr vertrauen?
Der Polizist führte mich zurück in mein Zimmer. Als sich die Tür hinter mir schloss, verspürte ich sogleich ein Gefühl von Einsamkeit. Neben meinem Bett lag ein Stapel Bücher, welcher meine einzige Abwechslung zu meinen immer wiederkehrenden Gedankengängen war. Sie gehörten alle Winter. Ich selbst hatte mich nie fürs Lesen interessiert. Was interessierten mich die erfundenen Geschichten anderer? Ich wollte selbst Abenteuer erleben und nicht nur davon lesen. Doch jetzt griff ich nach dem obersten Buch, schlug es in der Mitte auf und hielt es mir direkt vors Gesicht. Der Geruch von Papier und eine winzige Spur von Winters Parfum hüllten mich ein. Wenn ich die Geschichten las, die sie so sehr liebte, fühlte ich mich ihr näher.
„Er stirbt am Ende“, sagte plötzlich eine mir bekannte Stimme und ich ließ genervt das Buch sinken. Will saß auf dem Tisch, während er seine Füße auf dem Stuhl abgestellt hatte. Ein freches Funkeln lag in seinen Augen, welches ich, als er noch am Leben gewesen war, nie bei ihm bemerkt hatte.
„Du bist immer noch da?“, fragte ich unbeeindruckt. Seit meiner ersten Nacht in Untersuchungshaft tauchte er mehrmals am Tag wie aus dem Nichts bei mir auf. Beim ersten Mal hatte ich mich tierisch erschreckt und mir versucht klar zu machen, dass er eine Halluzination sein musste, doch er war dadurch nicht wieder verschwunden. Er kam und ging wie es ihm gefiel. Ich wusste nicht, ob ich ihn mir nur einbildete oder ob er tatsächlich da war. Aber falls er meiner Fantasie entsprang, war ich deutlich kreativer als ich bisher angenommen hatte.
„Du hast mich umgebracht“, erwiderte er leichthin und fügte dann triumphierend hinzu: „Nun werden wir für immer zusammen sein. Und du kannst nichts daran ändern.“
Er hatte mir schon einmal gesagt, dass er mich als Geist nun verfolgen würde, solange ich lebte. Keiner der Polizisten konnte ihn sehen. Wenn sie mich reden hörten, glaubten sie, dass ich in der kleinen Zelle langsam verrückt wurde.
„Verschwinde!“, zischte ich, obwohl ich wusste, dass er nicht auf mich hören würde. Stattdessen stand er vom Tisch auf und ließ sich neben mir auf dem Bett nieder. Unsere Beine berührten einander, aber ich konnte ihn nicht spüren.
„Du könntest wenigstens zugeben, dass du froh bist mich zu sehen. Immerhin bin ich dein einziger Gesprächspartner“, sagte er versöhnlich.
„Du bist nicht echt“, fuhr ich ihn an.
„Warum