Zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Hans Müncheberg
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Die Amtsperson senkte mit einem unmerklichen Kopfschütteln den Blick und blätterte in einem neu angelegten Schnellhefter. Einleitend stellte sie fest: „Ihre polizeilichen Führungszeugnisse habe ich inzwischen zu den Akten genommen, eine Formalie. Alles in Ordnung. Das war auch nicht anders zu erwarten ..., aber, bevor ich zu der von Ihnen erbetenen Vermittlung komme, erlauben Sie mir bitte eine persönliche Frage: Sie haben bereits ein gemeinsames Kind, fünf Jahre, gesund und lebhaft, wie ich der Auskunft des Kindergartens entnommen habe ..., also, wenn Sie sich noch ein Kind wünschen, warum erst jetzt? Wäre nicht Zeit für ein eigenes Geschwisterkind gewesen?“ Sie sah das vor ihrem Schreibtisch sitzende Ehepaar mehr prüfend als fragend an.
Helga Berger fühlte sich durch die Frage, die eine Unterstellung einzuschließen schien, persönlich angegriffen. Sie war nicht auf dieses Amt gekommen, um sich derartigen Anwürfen auszusetzen und wollte mit gebotener Deutlichkeit antworten, doch Georg legte beruhigend seine Hand auf ihren Arm. Sie wandte sich ihm zu. Er nickte voller Verständnis, zugleich mahnend. Sie holte tief Luft. Das tat sie immer, wenn sie einen spontanen Ärger unterdrücken wollte. Dann sagte sie leise, aber mit fester Stimme: „In unserem Antrag haben wir, denke ich doch, klipp und klar ausgeführt, aus welchen Gründen unser Junge bisher ein Einzelkind bleiben musste ..., und auch, dass wir vermeiden wollen, ihn weiterhin als Einzelkind heranwachsen zu lassen. Eine Gemeinsamkeit mit einem gleichaltrigen Knaben, wäre nicht nur für ihn eine Bereicherung, auch für einen neuen Bruder, der wieder in einer richtigen Familie aufwachsen könnte.“
„Gut, gut ...“ Die Referatsleiterin löste mit einer beschwichtigenden Geste ihre Hände von den vor ihr ausgebreiteten Papieren. „Wir begrüßen es natürlich, wenn sie einem unserer Heimkinder ein neues Zuhause geben wollen.“ Mit besonderer Betonung fügte sie hinzu: „Das ist auch im Sinne unseres sozialpolitischen Programms.“ Sie bemerkte einen kurzen Blickwechsel zwischen den vor ihr Sitzenden, räusperte sich, fand zu einer sachlichen Tonlage zurück und wandte sich dem Manne zu. „Eine rein praktische Frage hätte ich noch. Bei Ihrer sozialen Position darf ich doch davon ausgehen, dass Sie über ein Fahrzeug verfügen?“
Er nickte: „Sie dürfen davon ausgehen.“
„Das dachte ich mir.“ Sie schlug einen weiteren Aktenhefter auf. „Bad Freienwalde liegt ja nicht allzu weit entfernt. Einige Kinder mussten wir im dortigen Hilde-Coppi-Heim unterbringen. Unsere Berliner Heime waren und sind voll ausgelastet.“ Mit angefeuchtetem Zeigefinger blätterte sie einige Seiten um, dann tippte sie auf ein Formular, das mit einem kleinen Passbild versehen war. „Hier, das wäre vom Alter her fast ein Zwillingsbruder für Ihren Sohn, Thorsten Jäger. Ein kleiner Berliner, lebhaft, pfiffig und auch noch nicht zu lange unter Heimaufsicht.“ Sie hob dem Paar das Formblatt entgegen. Beide blickten zuerst auf ein kleines Foto, das ein verschlossenes Gesicht unter kurzen dunklen Haaren zeigte.
Der nahezu abwehrende Ausdruck auf dem Gesicht des Kindes löste bei Helga Berger die spontane Frage aus: „Und warum musste er ins Heim?“
„Seine Mutter besaß, sagen wir mal, weder die Fähigkeit noch den Willen, sich verantwortungsbewusst um ihr Kind zu kümmern. Aufmerksamen Nachbarn ist das noch rechtzeitig aufgefallen.“
„Und der Vater?“
„Der Vater ... – ja, der war nicht mit ausreichender Sicherheit festzustellen.“
„Also 'h-w-G'?” Aus seiner ehrenamtlichen Schöffentätigkeit kannte Georg die übliche Abkürzung für 'häufig wechselnden Geschlechtsverkehr'.
Die Referatsleiterin nickte unwillig. „Es geht uns um den Jungen. Für ihn sehe ich keine Chance, dass er zu seiner Mutter zurück kann.“
Durch diese Feststellung beunruhigt, beugte sich Helga etwas vor. „Das liegt hoffentlich nicht an dem Jungen?“
„Nein, nein!“ beeilte sich die Referatsleiterin zu betonen. „Der ist vollkommen in Ordnung!“ Als ob sie sich absichern müsse, fügte sie noch hinzu: „Falls es bei ihm irgendwelche Auffälligkeiten geben sollte, würden Sie das dort im Heim erfahren ...“ Sie richtete sich mit einem Seufzer der Erleichterung auf und sagte abschließend: „Ja, das wäre es für heute, und wenn Sie sich des kleinen Burschen annehmen wollen, würde ich Sie dort anmelden, für das nächste Wochenende ..., oder?“
Helga sah ihren Mann fragend an. Als der zustimmend nickte, klang ihre Antwort wie eine unerlässliche Vorbedingung. „Gut, am Sonnabend, noch am Vormittag, aber wir wollen uns den Jungen zuerst nur ansehen. Wir müssen uns unbeeinflusst ein Bild von ihm machen können. Wie er sich im Kreis der anderen Kinder bewegt, wie er von sich aus mit Erwachsenen spricht und so weiter ..., also für den Jungen noch kein bewusster Kontakt.“
„Kein Problem. Das lässt sich einrichten.“
Ein sonnenhelles Wochenende hatte begonnen, das erste im Juli des Jahres 1975. Es traf sich gut, dass Malte schon seit langem mit Helgas Mutter zu einem Bummel durch den Berliner Tierpark verabredet war. Darauf freute sich der Junge. Er drängte gleich nach dem Frühstück zum Aufbruch und maulte nur, weil ihm noch immer nicht erlaubt wurde, allein zu der nicht weit entfernt wohnenden Oma zu laufen.
Maltes Freude auf die gemeinsamen Stunden mit der Großmutter war auch ihre Freude. Sie wollten nicht mit dem Auto zum Tierpark gebracht werden, denn Malte fuhr am liebsten mit der U-Bahn. Am Eingang der Station „Strausberger Platz“, als sie sich verabschiedeten, wollte Malte erneut wissen, was die Eltern denn so Geheimnisvolles vorhätten.
„Heute Abend wirst du es erfahren.“ Mehr als dieses Versprechen erhielt der Junge nicht. Auch die Oma gab sich unwissend. Dann winkten beide dem Auto gestenreich nach.
Auf der Fernverkehrsstraße bei Werneuchen musste Georg mit dem Wartburg mehr als einmal vor herabgelassenen Schranken Pause machen. Die schnaufenden Lokomotiven und ihre dröhnenden Warnsignale weckten auch bei Helga angenehme Erinnerungen an frühere Urlaubsreisen. Dann aber rollten sie von den märkischen Randhöhen in das breite Flusstal der Oder hinab und nach Bad Freienwalde hinein.
Freundliche Passanten zeigten ihnen in der Stadt den Weg. Es war nicht weit.
Zu beiden Seiten des stattlichen Gebäudes verwehrten gepflegte Hecken den Blick in die Tiefe des Gartens. Man konnte aber lautes Geschrei spielender Kinder hören.
Einige Steinstufen führten zu einem kleinen Podest vor der Haustür. Sie war verschlossen. Helga wich einen Schritt zurück, holte tief Luft und sah Georg fragend an. Er küsste sie auf die nachdenklich gefurchte Stirn, dann drückte er auf den Klingelknopf.
Eine hochgewachsene Frau in dunklem Kostüm öffnete.
„Wir sind die Bergers aus Berlin.“
„Und ich die Heimleiterin“. Sie trat beiseite. Mit einer knappen Handbewegung wies sie auf das Ende eines längeren Ganges. „Sie werden schon erwartet.“
Noch bevor Helga und Georg die Terrasse an der Hofseite des Gebäudes erreicht hatten, wurden sie von der Heimleiterin überholt. Sie rief in den Hof hinunter: „Frau Schultes, schicken Sie mal den Thorsten her!“
„Moment!“ rief Helga erschrocken. „Es war vereinbart, dass wir erst einmal unerkannt ...“
Weiter kam sie nicht. Ein Bürschchen mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen stürmte herauf, lief zu ihr, umschlang sie.
„Sie könnten mit Thorsten ein Stündchen spazieren gehen“, meinte die Heimleiterin zufrieden und mit plötzlich sanfter Stimme.
Georg