Neues Leben für Stephanie. Lisa Holtzheimer
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Neues Leben für Stephanie - Lisa Holtzheimer страница 24
* * *
Punkt 20 Uhr trat Britta die Nachtwache an. Die übliche Übergaberoutine im Stationszimmer, dann war sie alleine. In den ersten Stunden gab es immer noch dies und das zu tun, für den Rest der Nacht hatte sie die Wahl zwischen fernsehen und lesen. Ein Buch hatte sie immer dabei, denn das Fernsehprogramm in der Nacht ließ meistens mehr als zu wünschen übrig. Heute jedoch war sie neugierig. Natürlich hatte sie schon mit Heidi telefoniert und wusste von der gelungenen Überraschung, aber Heidi erzählte auch, dass Michael auch über manche Dinge gesprochen hatte, die seelsorgerlichen Charakter hatten und die sie deshalb nicht weiter erzählen wollte. Das war eine Selbstverständlichkeit für Britta. Wenn er wollte, dass sie diese Dinge wusste, könnte er sie ihr selber erzählen. Sie öffnete die Tür zu Zimmer 23 und freute sich, dass der Zimmerkollege von Michael nicht in seinem Bett lag. Morgen Vormittag würde er sowieso entlassen werden. Michael Aschmann blätterte in einer Zeitschrift und hatte leise Musik laufen.
Britta lächelte. Das war also eine sehr gute Idee gewesen. Heidi hatte ihr erzählt, dass die drei Besucher heute für Musik gesorgt hatten. Als Michael sie kommen sah, legte er die Zeitschrift zur Seite. „Mensch, Britta, das war die beste Idee des Jahrhunderts!“ Er strahlte sie an. „Die Überraschung ist dir wirklich gelungen.“ Im selben Moment wurde ihm bewusst, dass er mit Britta bisher noch per Sie war. „Entschuldigung – so weit waren wir ja noch gar nicht.“ Britta fand das überhaupt kein Problem. „Das wollte ich auch gerade vorschlagen. Alles andere wäre spätestens jetzt doch eh nur noch albern. Und überhaupt – irgendwie gehörst du jetzt ja zu uns.“ Sie hielt ihm ihre Hand entgegen und er drückte sie fest. Dann erzählte er, wie sehr er sich über den Überraschungsbesuch am gestrigen Nachmittag gefreut hatte und wie gut ihm das Gespräch besonders mit Max und Heidi getan hatte. „Die beiden haben eine besondere Seelsorge-Gabe“, meinte er nachdenklich, „ich habe ihnen Dinge erzählt, über die ich so schnell mit niemandem sprechen würde – schon gar nicht mit Wildfremden.“ Britta konnte das nur bestätigen und ermutigte ihn, mit den beiden im Gespräch zu bleiben, so lange er noch hier war. „Manchmal spricht es sich mit Fremden leichter als mit Bekannten.“ Sie war überzeugt davon, dass es ihm sehr gut tun würde.
Sie sprachen eine ganze Weile, bis schließlich Michaels Zimmernachbar zurückkam. Britta drückte noch einmal Michaels Hand – der andere Patient musste ja nicht alles wissen – und wünschte den beiden eine gute Nacht. Sie selber machte sich daran, das Stationszimmer aufzuräumen. Später verzog sie sich mit ihrem Buch auf das Sofa in die Ecke. Es war ruhig auf Station. Keine Klingel summte, kein Telefon meldete sich. Gegen Mitternacht machte sie noch einmal eine Runde, öffnete leise die Türen der Zimmer und schaute, ob es den Patienten gut ging. Alle schliefen tief und fest.
14
Stephanie trat an den Abfertigungsschalter des Salzburger Flughafens. Sie lächelte in sich hinein. Als sie das letzte Mal hier gewesen war, hatte sie ihre beste Freundin verabschiedet und musste selbst zurück bleiben. Dieses Mal war sie selbst der Passagier. Sie stellte ihre Reisetasche auf das Förderband, reichte der freundlichen Dame am Schalter ihr Ticket und ihren Personalausweis und ließ sich einen Fensterplatz reservieren. Sie war schon oft geflogen, doch jedesmal wieder war sie fasziniert von den Eindrücken über oder unter den Wolken. So schön die Ausblicke auf die tief unter ihr liegende Erde waren, am allerliebsten schaute sie einfach den Formationen der Wolken zu, wenn das Flugzeug über diesen dahinschwebte.
„Wie Watte zum Reinspringen“, dachte sie auch jetzt wieder, als ihre Maschine sich nach einer Weile hoch über die Wolken geschraubt hatte. Sie hatte ein Buch im Handgepäck, doch die Wolken faszinierten sie so sehr, dass sie ihren Blick einfach nicht vom Fenster nehmen konnte. Sie schaute den weißen Riesen zu und hing ihren Gedanken nach. „Wenn es Gott wirklich gäbe, dann müssten wir ihm hier oben irgendwie näher sein“, dachte sie plötzlich ganz unvermittelt. In den letzten Wochen war sie zwei-, dreimal mit Britta zum Hauskreis gegangen, und es blieb nicht aus, dass sie begann, über Gott nachzudenken. Nach wie vor war sie überzeugt davon, dass es den ‘lieben Gott’ nicht gäbe. Bei so viel Ungerechtigkeit in der Welt, wo Kinder verhungerten und ermordet wurden, wo alte und auch junge Menschen grausam an Krankheiten wie Krebs starben und wo Menschen ihren Nachbarn und sogar ihrer Familie gegenüber derartig gleichgültig waren, da konnte es keinen lieben Gott geben. Ein Gott, der von sich behauptet, ‘lieb’ zu sein, aber all dies zuließ, war entweder ein grausamer Sadist oder nicht existent. Stephanie entschied sich für die letztere Variante. Einen sadistischen Gott konnte sie sich noch weniger vorstellen als einen lieben.
Trotzdem – in Britta hatte sie eine echte Freundin gefunden, und auch die anderen Christen aus dem Hauskreis wurden ihr langsam vertrauter und auch sympathischer. Als Heidi kürzlich ihren Geburtstag feierte, hatte sie Stephanie selbstverständlich mit eingeladen, und es war eine wirklich schöne Feier mit netter, freundlicher Atmosphäre gewesen. Hier waren noch mehr Leute gewesen, die Stephanie noch nicht kannte, und die meisten von ihnen schienen auch zu einer der Gemeinden zu gehören, von denen sie nun schon einiges gehört hatte. Irgendwas verband diese Leute, das war nicht zu übersehen. Sie hatten eine gemeinsame Überzeugung. Das hatten andere Vereine und Gruppen auch, doch in dieser Gemeinschaft hatte Stephanie das angenehme Gefühl, dass niemand ihr seine eigene Überzeugung aufdrängen wollte. Vielmehr nahm man sie einfach so, wie sie war. Das half ihr, ihre anfängliche Scheu zu verlieren und lockerer zu werden im Umgang mit den anderen. Ihre Freundlichkeit war absolut ehrlich und hatte keinen ‘Hintergedanken’.
Jana sah das immer noch anders. Jedes Mal, wenn die Sprache auf das Thema kam, wurde die Krankenschwester von ihrer Freundin gewarnt. Wenn sie sich erst einmal wirklich auf die Leute eingelassen hätte, dann kämen sie bestimmt raus mit ihren Absichten. Es sei doch bekannt, dass diese Sekten immer erst Freundlichkeit mimen würden, bis ihre Opfer angebissen hätten. Dann irgendwann käme die Aufforderung, sich ihrer Gemeinschaft mit Haut und Haaren – und vor allem Geld – auszuliefern; Gehirnwäsche inklusive.
Stephanie nervten diese Gespräche inzwischen. Sie hatte weder vor, sich irgendeiner Gemeinschaft mit Haut und Haaren auszuliefern, Geld sei bei ihr sowieso nicht zu holen, und zu einer Gehirnwäsche gehörten immer noch mindestens zwei: der Wäscher und derjenige, der sich waschen lassen würde. Außerdem war sie überzeugt davon, dass das vielleicht auf ein paar merkwürdige Sekten zutraf, aber mit Sicherheit nicht auf ihre Bekannten. Sie liebte Jana wirklich, aber sie hatte nicht die geringste Lust, sich von ihr jedesmal wieder ihre neuen Freunde madig machen zu lassen. Mehrmals hatte sie ihr schon entgegengesetzt, dass sie durchaus selber in der Lage sei, auf sich aufzupassen und auch zu unterscheiden, was einfach normale Freundlichkeit und was Seelenhascherei war. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass Jana auch ein bisschen eifersüchtig auf Britta war, mit der Stephanie sich von Tag zu Tag besser verstand. „Ich muss Jana unbedingt klar machen, dass Britta ihr nicht meine Freundschaft wegnimmt“, dachte sie, während sich tief unter ihr jetzt ein Fluss durch die Landschaft schlängelte und sich verschiedenfarbige Felder wie mit dem Lineal gezogen aneinander fügten.
Sie versuchte, die Gedanken an Gott abzuschütteln – ihr wurde unwohl, wenn sie sich zu lange damit beschäftigte. Doch ihre Gedanken wanderten nur weiter. Plötzlich stand ihr Michael vor Augen. Vor kurzem war er in eine Reha-Klinik bei Frankfurt entlassen worden, wo er wieder laufen lernen sollte. Sie hatte bewusst nicht gefragt, wohin genau, und auch seine Adresse hatte sie sich nicht notiert. Es wäre ihr ein Leichtes gewesen, diese aus der Krankenakte abzuschreiben. Aber sie hatte wenig Hoffnung,