Neues Leben für Stephanie. Lisa Holtzheimer
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Das kleine Boot wurde immer mehr hin und her gepeitscht, und längst hatten sie nasse Füße bekommen. Stephanie hielt sich krampfhaft am Mast fest – das Segel hatten sie gerade noch rechtzeitig einziehen können. Jana versuchte immer noch, das Boot irgendwie zu steuern, aber es war aussichtslos. Mehr als einmal drohte die Jolle umzukippen, und einmal fiel Stephanie dabei beinahe ins tobende Wasser.
Die Mädchen wussten nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie plötzlich ein Motorengeräusch hörten. Erst konnten sie es kaum glauben, doch dann kam ein Motorboot immer näher. Einige Minuten später fanden sie sich in einer warmen Kajüte wieder, registrierten wie im Traum, dass ein Mann das kleine Segelboot mit einem Tau an dem Motorboot befestigte und jemand anders sie in warme Decken hüllte. An Land im Haus der Seenotrettung begrüßte sie Janas Vater – halb verärgert, aber mehr erleichtert, dass seiner Tochter und deren Freundin außer Erschöpfung und durchnässter Kleidung nichts passiert war. Nachdem Janas Mutter bei Stephanie angerufen hatte, um zu fragen, ob die Mädchen dort seien, und Stephanies Mutter gedacht hatte, sie seien bei Jana, lag der Gedanke nahe, dass sie mit dem Boot unterwegs seien.
Jana musste fast lachen, als sie an die halbherzige Standpauke ihres Vaters dachte, der sie anschließend mit Tränen in den Augen in die Arme geschlossen hatte. Stephanie war es ein bisschen schlimmer ergangen. Ein absolutes Verbot, jemals wieder mit Jana das Segelboot zu betreten, war die Folge. Natürlich hatten sie sich nicht strikt daran gehalten und immer wieder Wege gefunden, doch dem geliebten Hobby nachzugehen.
Jetzt, mehr als 15 Jahre später, kam es Jana vor wie ein Film. Die kleine Jolle gab es immer noch. Sie stand im Garten der Eltern, wurde liebevoll gehegt und diente als Blumenbeet. Heute segelte Jana im Verein auf größeren Booten, und ein Segelurlaub mit Stephanie war für den Sommer geplant. Ob daraus etwas werden würde? Sie hatten es sich fest versprochen, als Stephanie Hamburg verließ, wussten aber beide nicht, ob sie zeitgleich Urlaub nehmen konnten.
In Berchtesgaden ging die Sonne unter, als Stephanie wieder aufwachte. Den halben Nachmittag hatte sie auf der Couch gelegen und geschlafen. Dass das Radio leise im Hintergrund lief, störte sie nicht im Geringsten. Der Schlaf hatte ihr gut getan, und sie fühlte sich ein wenig besser. Sie wollte möglichst bald wieder fit sein, darum ließ sie sich jetzt ein Erkältungsbad ein. Während das Wasser in die Badewanne strömte, kochte sie sich noch einen Erkältungstee und nahm den heißen Becher mit ins Badezimmer. Sie wollte gerade in das dampfende Wasser steigen, als das Telefon klingelte. Sie überlegte kurz und entschied sich dann, es klingeln zu lassen. Wer etwas Wichtiges wollte, würde sich wieder melden oder eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen. Sie hörte noch, wie das Gerät sich einschaltete, dann übertönte das leise Platschen die Geräusche aus dem Wohnzimmer, als sie sich langsam in die heiße Wanne sinken ließ. Erkältungsbad, Erkältungstee und Kerzen am Badewannenrand – da konnte sie doch nur noch gesund werden.
Als sie knapp eine Stunde später wieder das Wohnzimmer betrat, hörte sie den Anrufbeantworter ab. Ihre Mutter hatte versucht, sie zu erreichen. Es ging um Sandra, ihre Schwester. Die Nachzüglerin machte den Eltern immer mal wieder Sorgen. Wenn es zu arg wurde, musste Stephanie ihre Mutter beruhigen und ihr versichern, dass Sandra zwar ein Wildfang war, aber immerhin auch schon volljährig und durchaus in der Lage zu entscheiden, was sie tat. Sie hatte im Sommer kurz vor dem Abitur das Gymnasium verlassen, weil sie sich in den Kopf gesetzt hatte, Erzieherin zu werden, „und dazu braucht man schließlich kein Abitur“. Nach drei Monaten an der Fachschule für Sozialpädagogik wurde ihr klar, dass das doch nicht ihr Traumberuf war, und heute hatte sie den Eltern in ihrer direkten Art mitgeteilt, dass sie sich dort abgemeldet hatte.
Stephanie erfuhr diese Neuigkeit, als sie ihre Mutter zurückrief. „Und was will sie jetzt machen?“, fragte sie schließlich, als ihre Mutter ihren Wortschwall beendet hatte? „Sie will doch das Abitur machen und dann Medizin studieren.“ Stephanie musste lachen. Die Liebe zur Medizin schien in der Familie zu stecken. Der Vater hatte ein Medizinstudium aus finanziellen Gründen abbrechen müssen, danach eine Ausbildung zum Physiotherapeuten absolviert und sich in harter Arbeit eine kleine, aber gut gehende Praxis aufgebaut. Stephanie wollte schon als kleines Mädchen Krankenschwester werden wie die Mutter und verfolgte diesen Weg geradlinig. Nur der ältere Bruder, Torsten, hatte mit Medizin nichts am Hut. Er hatte ein solides BWL-Studium abgeschlossen, kurz danach geheiratet und arbeitete als Geschäftsführer einer großen Firma. Und nun Sandra. Das Zeug dazu hätte sie.
Das sagte sie auch ihrer Mutter. „Wenn sie begriffen hat, dass sie mit dem Abitur doch weiter kommt – warum nicht? Ich glaube, sie gäbe eine gute Ärztin ab.“ Im weiteren Gespräch konnte sie ihre Mutter ein wenig beruhigen, aber sie war gespannt, wie sich diese Geschichte weiter entwickeln würde. Bei Sandra konnte man nie ganz sicher sein. Wenn ihr morgen einfiele, als Entwicklungshelferin nach Afrika gehen zu wollen, würde sie das ebenso direkt umsetzen wie ihre anderen Ideen auch.
4
Michael stand auf dem Balkon seiner Pension und versuchte, durch das Schneegestöber die nahen Berge auszumachen. Nicht einmal der Kehlstein war zu sehen, der sonst zum Greifen nahe schien. Bei Sonnenschein konnte er mühelos einen Teil des Kehlsteinhauses, dem ehemaligen „Eagles Nest“, auf dem Gipfel ausmachen. Jetzt war nicht einmal der Berg zu sehen. Seit drei Tagen ging das schon so. Sein mitgebrachtes gutes Wetter hatte sich verflüchtigt. Michael liebte den Schnee, aber er wollte ihn nicht nur vom Himmel fallen sehen; er wollte Ski laufen. Bei diesem Wetter unmöglich. Keine fünfzig Meter Sicht, da war die Abfahrt lebensgefährlich und sämtliche Pisten gesperrt. Freilich fanden sich trotzdem immer wieder ein paar Waghalsige am Berg, die alle Warnungen und Verbote in den Wind schlugen. Nicht selten endeten solche Abenteuer im Krankenhaus, und so manchen hatte es auch schon das Leben gekostet.
Michael hatte nicht vor, sein Leben zu riskieren, und im Krankenhaus wollte er auch nicht landen. So schmerzlich es auch war, auch heute blieben die Skier stehen. Es gab ja in dieser Gegend noch genügend andere Möglichkeiten, sich die Zeit zu vertreiben. Gestern hatte er eine kleine Wanderung zum Königssee gemacht. Ein wunderschöner Weg durch den verschneiten Wald zum saubersten See Deutschlands, der trotz seiner teilweise 190 Meter Tiefe im Winter oft zufror. Auch jetzt überzog eine leichte Eisdecke das glasklare Wasser. Überall standen Schilder, die davor warnten, das Eis zu betreten. Leider war es nicht tragfähig. Der zugefrorene See bot einen faszinierenden Anblick. Eingebettet zwischen hohe Berge, lag er dort wie im Winterschlaf. Die lautlosen Elektroboote hatten ihren Betrieb schon lange eingestellt, aber dennoch tummelten sich Hunderte von Touristen am Seeufer. Die zahllosen Andenkenläden, Geschäfte und Restaurants hatten auch im Winter Hochsaison.
„Erst einmal frühstücken.“ Michael ging in den gemütlichen Frühstücksraum, nahm an einem der von Christine liebevoll gedeckten Tische Platz, goss sich eine Tasse Kaffee ein und wollte gerade sein Ei köpfen, als Florian Mooser hereinplatzte. „Hast du schon gehört? In der Raumsau ist eine Lawine abgegangen! Alle Straßen sind gesperrt, Hunderte Autos sind unter dem Schnee begraben! Die Bergwacht schafft es gar nicht, alle zu suchen! Keiner darf das Haus verlassen!“ Einen Moment stutzte Michael – in den Nachrichten vor einer halben Stunde hatte er davon nichts gehört. Dann wurden ihm die Übertreibungen dieser Aussage bewusst, und er sah den Jungen durchdringend an. Er kannte den Sohn der Pensionswirte, aber manchmal fiel er doch wieder auf dessen Streiche herein. Florian grinste breit: „Aber zuerst hast du’s geglaubt!“ Michael gab es zu. „Aber demnächst musst du dir was Neues einfallen lassen. So langsam kenne ich deine üblichen Fallen. Hast du keine Schule heute?“ „Nein, es ist doch eine Lawine abgegangen.“ Florian duckte sich, als Michael dazu ansetzte, mit dem Ei nach ihm zu werfen. „Heute ist Samstag. Ihr Urlauber habt ja eh gar kein Zeitgefühl!“
Stimmt, heute war Sonnabend. Wenn er noch etwas unternehmen wollte, bevor das Wochenende auch in den Orten begann, sollte er sich langsam auf den Weg machen. Das Wetter versprach keine